Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
liebsten tot gesehen. Aber das war nicht weiter verwunderlich – mit einer Ausnahme verfolgten alle Ratsmitglieder rücksichtslos ihre eigenen ehrgeizigen Ziele. Anthony Kyriakus war die rätselhafte Ausnahme, die die Regel bestätigte. „Ein persönlicher Besuch ist äußerst ungewöhnlich.“
„Ich wollte nicht das Risiko eingehen, im Medialnet Spuren zu hinterlassen.“ Henry legte die Hände auf den Rücken und sah dadurch wie ein General alter Schule aus. Eine wohlüberlegte und sorgfältig einstudierte Geste, sie sollte die Bevölkerung beruhigen, denn Henry wirkte damit wie ein gütiger Regent. „Nach Marshalls Tod ist mir klar geworden, dass man mich als Vorsitzenden des Rates ansieht.“
„Wir haben keinen Vorsitzenden.“
„Uns ist doch beiden klar, dass Marshall die Dinge gewissermaßen in der Hand hatte.“
Kaleb senkte den Kopf als Zeichen der Zustimmung. „Und du möchtest nicht die Krone übernehmen?“
„Ich möchte kein Strohmann sein.“
Seit wann war Henry ein solch scharfer Beobachter? Schon als er diesen Gedanken formulierte, wurde Kaleb klar, dass er das Undenkbare getan hatte. Er hatte Henry aufgrund seiner äußeren Erscheinung beurteilt, hatte nicht aufmerksam genug hingesehen. Der Mann war schließlich Ratsherr. Man kam nicht in den Rat, wenn man kein Blut an den Händen hatte. Das wusste Kaleb besser als jeder andere. „Du bist von uns allen am sichtbarsten“, sagte er sanft, während er sich gleichzeitig fragte, wie viel Henry wusste. War es zu viel, musste er ausgeschaltet werden – Kaleb hatte im Lauf der Zeit schon genug Grenzen überschritten, um vor diesem Schritt zurückzuscheuen. „Ihr habt beide diese Rolle gewählt.“
„Shoshanna hat sie gewählt, das weißt du genauso gut wie ich.“ Henrys Ausdruck war irgendwie … abwesend, aber Kaleb konnte nicht sagen, warum er diesen Eindruck hatte. Vielleicht lag es nur daran, dass Henry sein wahres Gesicht zeigte. „Ich wollte dich nur informieren, dass Änderungen bevorstehen.“
Henry meinte offensichtlich mehr als nur die Medienauftritte. „Und warum tust du das?“
Während er auf eine Antwort wartete, wurden Henrys Augen vollkommen schwarz. Der Ratsherr erhielt gerade telepathisch eine Nachricht. Kaleb ebenfalls, aber er konnte sich besser beherrschen, in seinen Augen leuchteten weiterhin Sterne auf nachtschwarzem Grund.
Ashaya Aleines Leiche ist verschwunden. Sie könnte ihren eigenen Tod vorgetäuscht haben.
Ming , meldete sich Nikitas unverwechselbare geistige Stimme, das ist zwar ein Problem, aber keinesfalls so dringlich, um uns alle zu stören. Sie ist Wissenschaftlerin und verfügt nicht über die Fähigkeiten, längere Zeit auf der Flucht zu überleben, wenn es wirklich stimmt, dass sie am Leben ist. Ich denke ja eher, dass jemand sich ihrer Leiche bemächtigt hat.
Ming antwortete sofort. Ihr Organizer war so präpariert, dass alle Daten gelöscht wurden, wenn man sich unerlaubt Zugang …
Wie ist so etwas möglich? , unterbrach ihn Tatiana. Meinen Informationen nach verfügte Aleine nicht über besonders große Kenntnisse in der Computertechnologie.
Der Organizer ist mindestens sieben Jahre alt. Ich vermute, jemand anderes ist für die Verschlüsselung verantwortlich. Aber das ist unerheblich – der Chip war eine Attrappe.
Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe, aber Ming wartete nicht ab, bis sich die Wogen geglättet hatten. Wir haben ihre Räume, das ganze Labor und auch Keenan Aleines Zimmer durchsucht und absolut nichts gefunden. Wenn sie noch am Leben ist, hat sie den Chip bei sich. Ist sie tot, dann befindet sich der Chip wahrscheinlich in der Leiche. Wir müssen sie finden, bevor die Daten an die Öffentlichkeit gelangen – das könnte das ganze Implantationsprogramm kippen.
Was ist mit Aleine? , fragte Nikita.
Der Chip hat höchste Priorität.
Ist das ein Tötungsbefehl, Ming? , ließ sich Shoshannas eisige Stimme hören.
Am besten wäre es, sie lebendig zu erwischen. Sollte sie allerdings Widerstand leisten, müssen wir sie auslöschen. Natürlich erst, nachdem sie verraten hat, wo sich der Chip befindet. Wenn ihr Hilfe bei der Befragung braucht, wendet euch an mich.
Niemand fragte, wie er auf den Gedanken kam, seine Mithilfe würde etwas ändern. Ming war ein ehemaliger Pfeilgardist mit der angeborenen Fähigkeit einen geistigen Zweikampf auf höchster Stufe zu führen. Im Foltern war er geradezu ein Künstler.
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Ich hätte dieses Tagebuch schon vor Jahren vernichten
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