Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Wenn du mich nicht hinfährst, werde ich eben laufen.“ Ihre Hand lag am Türgriff.
Dorian drückte den Knopf für die Kindersicherung. „In diesem Zustand gehst du nirgendwohin.“ Sie war nicht mehr sie selbst. Die Schicht aus Eis war gesprungen, aber es war zu plötzlich gekommen. Sie war aus dem Gleichgewicht geraten, ihr Verstand funktionierte nur noch sehr eingeschränkt.
Ohne Vorwarnung schlug sie mit der Faust gegen die Tür. „Ich muss zu ihm.“
Er roch Blut, die Haut an ihren Knöcheln war verletzt. Er fluchte und fasste nach ihren Händen. „Ich bring dich ja hin.“
Sie sah ihn ungläubig an. „Dann fahr doch endlich.“ Ein weiterer Befehl.
Er ließ ihre Hände los und trat aufs Gas. Nun brauchte er ihre Anweisungen nicht mehr, aber sie gab sie trotzdem, als könne sie sich nicht zurückhalten. Sobald sie vor dem Haus angekommen waren, versuchte sie, die Tür zu öffnen. Er entriegelte die Sicherung, eine Sekunde später war sie aus dem Wagen herausgesprungen. Trotz seiner Schnelligkeit als Gestaltwandler stand sie schon auf der Terrasse, bevor er sie einholen konnte.
Er legte den Arm um ihre Taille. „Warte.“
Sie versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. „Ich muss …“
„Wenn du ohne Einladung in das Haus von Leoparden eindringst, musst du darauf gefasst sein, dass sie dir den Kopf abreißen.“ Er zwang sie, ihn anzusehen. „Es könnten Junge dort drin sein – ihre Mutter wird nicht lange fackeln und dich in Stücke reißen.“
Er schien endlich zu ihr durchzudringen. „Ich … verstehe.“ Die Anstrengung, zur Vernunft zu kommen, war ihrem Gesicht deutlich anzusehen. „Ich muss aber dort hinein.“
Er hielt sie weiter fest und öffnete die Tür, die nie abgeschlossen war. Tamsyn war nicht dumm, aber sie wusste, dass ihr Haus rund um die Uhr von Gestaltwandlersoldaten bewacht wurde. Sie waren bislang bloß nicht auf Ashaya losgegangen, weil er bei ihr war.
Sobald sie das Haus betreten hatten, stieß Ashaya ihm den Ellbogen in die Seite, trat mit ihrem Stiefel kräftig auf seinen Fuß und raste die Treppe hoch. Zu spät fiel ihm ein, dass Ashaya Aleine sehr gut Gelassenheit vortäuschen konnte.
„Verflucht!“ Knurrend lief er ihr hinterher.
Er erwischte sie vor einem der Schlafzimmer. Es roch nach dem Rudel, aber auch nach Keenan. Durch die offene Tür sah er Tamsyn, die neben dem Bett kniete und überrascht hochsah. Der Junge lag zusammengerollt wie ein Embryo auf der Seite und schien zu schlafen. Tammys Söhne waren nirgendwo zu sehen, also wahrscheinlich noch bei den Großeltern, aber einer der älteren Jugendlichen des Rudels, Kit, kniete mit sorgenvollem Gesicht auf der anderen Seite des Bettes.
„Dorian?“, fragte Tammy und sah Ashaya an.
Die Stimme schien sie aus dem Schockzustand zu reißen. „Lass mich los!“ Ein weiterer Stoß mit dem Ellbogen, aber er hatte sie bereits freigegeben. Denn er hatte erkannt, dass etwas mit Keenan nicht in Ordnung war. Dorian spürte es in seiner Brust, einen dunklen Knoten von Gefahr, einen geistigen Hilfeschrei, den sein Gestaltwandlerhirn nicht hätte in Worte fassen können.
Aber Ashaya hatte begriffen.
Ohne die anderen zu beachten, setzte sie sich zu Keenan aufs Bett und nahm ihn in die Arme. Noch während Dorian erstaunt diese Wandlung einer rationalen Wissenschaftlerin zu … einer Leopardin mit ihrem Jungen beobachtete, zog sie den Jungen auf ihren Schoß und sagte: „Keenan, hör auf damit.“ Ihr Ton war schneidend und scharf wie ein Schwert.
Tammy sog die Luft ein, ihr Gesicht war ein einziger Ausdruck von Widerwillen. „Er ist ein Kind. Nehmen Sie sich zusammen.“
Ashaya schien sie nicht gehört zu haben. „Komm sofort da raus. Mach schon!“ Ein eisiger Befehl.
Es sah aus, als wollte Tamsyn sich an ihr vergreifen, und deshalb trat Dorian zwischen sie und die beiden auf dem Bett. „Nein“, sagte er, obwohl er nicht wusste, warum er Ashaya half und was zum Teufel überhaupt los war. Er wusste nur, dass Keenan in großer Bedrängnis war. „Fass sie nicht an, Kit“, sagte er, als der Jugendliche sich bewegte. Kit erstarrte, hin und her gerissen zwischen dem Wächter und der Heilerin, in dieser Situation war die Rangfolge unklar.
Die Stimmung war aggressiv, Gewalt lag in der Luft.
22
Tammy sah Dorian mit funkelnden Augen an. „Sie schlägt ihn mit ihrer Stimme.“
„Was fehlt ihm denn?“, fragte Dorian, die Augen auf Ashaya gerichtet, die sich vor- und zurückwiegte und ihren Sohn fest im
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