Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
Worten lag so viel Liebe und Zuneigung, Dorian konnte kaum begreifen, dass Ashaya diese Gefühle so lange hatte verbergen können.
Aber um welchen Preis!
Ashaya wusste, dass sie vielleicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte, aber sie hatte nicht mehr rational denken können, als sie merkte, wie Keenan sich ihr entzog. Es hatte sie nicht gekümmert, dass Amara ihre Schwäche ausnutzen konnte, um in ihren Kopf zu gelangen. Aber nun forschte sie aus Furcht, Amara hätte genau das getan und herausgefunden, dass Keenan noch am Leben war, nach Hinweisen danach. Doch sie fand etwas völlig anderes – eine Mauer von festen, neuen Schilden zwischen Amara und ihr, Schilde voller Farben … und voller Chaos. Schön und wild, die sie seltsamerweise an Dorian erinnerten.
Keenan bewegte sich in ihren Armen und setzte sich ganz auf.
Ein Kind, dachte sie, er war nur ein Kind. Niemand sollte eine solche Bürde tragen müssen wie Keenan, eine Bürde, vor der sie ihn nicht bewahren konnte. Denn er musste wissen, warum er bestimmte Geheimnisse nicht verraten, bestimmte Dinge nie erzählen durfte.
„Kann ich jetzt spielen gehen?“, fragte er … aber sie war nicht gemeint.
„Geh schon.“ Dorian nickte und strich ihm das seidige Haar aus der Stirn. „Aber bleib erst einmal im Haus.“
„In Ordnung.“ Er krabbelte vom Bett und hüpfte über den Boden.
Dorian nahm ihn hoch, bevor er die Tür erreicht hatte. Keenan gab einen überraschten Laut von sich, warf dann aber die Arme um den Hals des Gestaltwandlers und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Ashaya nicht verstand. Es machte nichts. Das Lächeln auf Dorians Gesicht sagte alles – ihr kleiner Junge vertraute ihm. Sie konnte dieses Band zwischen dem tödlichen Scharfschützen und dem Kind beinahe sehen. Es war so fest wie Stahl.
„Versuch dich den Rest des Tages gut zu benehmen, K-Man.“ Dorian gab Keenan einen Kuss auf die Wange, bevor er ihn wieder absetzte, und sie fragte sich, wie es wohl wäre, solches Vertrauen und solche Zuneigung zu empfangen.
„Werde ich.“ Keenan nickte und ging zur Tür. Bevor er sie öffnete, drehte er sich zu Ashaya um. „Gehst du wieder fort?“
Sie musste es eigentlich, um Amara von hier wegzulotsen. Aber sie sagte: „Nein, ich bleibe.“
Er lächelte schüchtern. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, drehte den Türknauf und ging hinaus. Ashaya stand nicht auf, ihr war bewusst, dass Dorian sie beobachtete, dieser Mann, auf den sie in ihr völlig unbekannter Weise reagierte.
Mit einem leisen Klacken schloss sich die Tür. „Auch wenn du mich ignorierst, heißt das nicht, dass du mich loswirst.“ Eine sehr männliche Bemerkung ohne den üblichen Spott. Stattdessen lag darin eine gefährliche Schönheit – etwas, das tiefer reichte als Charme.
Instinktiv ging sie in die Verteidigungsposition. „Ich habe mir nur gerade überlegt, wie ich die Risse in meiner Konditionierung kitten kann.“ Sie hatte ihr wahres Selbst so lange verborgen, dass es ein Automatismus geworden war.
Er setzte sich nur wenige Zentimeter entfernt von ihr auf das Bett, ein warmer, lebendiger Mann mit dem eisenharten Willen eines Leoparden. „Gib es doch zu – oder muss ich dich erst dazu zwingen?“
Sie konnte seinem Blick nicht mehr ausweichen. Die Nähe nahm ihr fast den Atem. „Ich kann die Wahrheit schlecht verleugnen. Meine mütterlichen Instinkte sind durch die Risse in den Mauern von Silentium durchgebrochen.“
„Unsinn.“ Das harte Wort war wie ein Messerstich. „Vergiss die ganze Sache mit den Rissen und der Reparatur. Du weißt genauso gut wie ich, dass deine Konditionierung schon lange versagt hat – falls sie überhaupt jemals richtig funktioniert hat.“ Er legte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sah sie von unten an. Seine Haltung mimte Gelassenheit, seine Augen waren nichts weniger als das.
Ashaya war darauf vorbereitet, dass man sie irgendwann einmal vollkommen durchschauen würde. Aber die Szenarien hatten sich alle um den Rat gedreht. Um Lügen, die mit ausdruckslosem Gesicht gesagt wurden. „Ich leide unter schwerer Klaustrophobie“, sagte sie, denn sie konnte Dorian nicht anlügen, musste ihn aber von dem einen Geheimnis ablenken, das nie jemand erfahren durfte.
Seine Augen wurden fast mitternachtsblau. „Und der Rat hat das durchgehen lassen?“
„Es hat meine Arbeit nicht beeinträchtigt“, sagte sie. „Ich habe sogar das Untergrundlabor überstanden – obwohl es mir zunehmend
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