Gefrorene Seelen
etwas vorverlegen«, bemerkte Eric beiläufig. »Machen wir die Party etwas früher als geplant. Wir wollen doch nicht, dass sich unser Gast langweilt.«
Edie ließ geräuschlos den Atem ausströmen. Schlieren schwammen an den Rändern ihres Gesichtsfeldes. Weit unten von der Schlittenbahn war fröhliches Kindergeschrei zu hören, das von den kalten weißen Bergen widerhallte.
*
Bum, bum, bum
. Edie hätte am liebsten geschrien. Sie hatten doch gerade vor einer halben Stunde zu Abend gegessen; was wollte sie denn nun schon wieder?
Bum, bum, bum
. Als ob sie mit dem Stock direkt auf meinen Schädel klopfen würde. Nie hat man Ruhe. Den ganzen Tag öde Arbeit in dem öden Drugstore in diesem öden Kaff, und was erwartet mich zu Hause?
Bum, bum, bum
.
»Edith! Edith, wo steckst du denn? Ich brauche dich!«
Edie stand mit einem nassen Teller in der Hand am Spülbecken und rief, zur Treppe gewandt: »Ich komme gleich!« Dann in normaler Lautstärke: »Alte Ziege.«
Der Baum vor dem Küchenfenster schwankte im Wind und kratzte mit eisigen Fingern an der Fensterscheibe. Wie wohltuend grün hatte derselbe Baum vor ein paar Monaten ausgesehen. Eric war in ihr Leben getreten und hatte ihr den grünsten Sommer ihres Lebens beschert.
Bum, bum, bum
. Sie bemühte sich, das Pochen des Spazierstocks ihrer Großmutter nicht zu hören, und wünschte sich stattdessen, der Zweig würde wieder grün ausschlagen. Der ganze Sommer war ein einziges großes Farbenspiel aus tausend schillernden Grün- und Blautönen gewesen, in dem sie die Wonne gekostet hatte, Eric kennen zu lernen. Aus Langeweile und Bedeutungslosigkeit war mit Eric plötzlich Leidenschaft geworden. Er hatte Spannung und erregende Augenblicke in ihr leeres, nichtiges Leben gebracht.
Ich bin ein erobertes Land
, hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben.
Ich gehöre jetzt Eric, er herrscht über mich, wie es ihm beliebt. Er hat mich im Sturm erobert
. Diese Worte erinnerten sie an einen anderen Sturm, einen Orkan aus Wind und Regen, der im vergangenen September die stahlgraue Oberfläche des Lake Nipissing aufgepeitscht hatte.
Sie hatten das Indianermädchen umgebracht. Na ja, rein technisch gesehen, hatte Eric es getötet, aber sie war dabei gewesen, sie hatte ihm geholfen, das Mädchen mitzunehmen, hatte es in ihrem Haus gefangen gehalten und zugesehen, wie er es tat.
»Siehst du den Ausdruck in ihren Augen?«, hatte er sie gefragt. »Das ist die Angst, das ist mit nichts anderem zu verwechseln. Auf diesen Ausdruck kannst du dich verlassen.«
Das Mädchen war an das Messingbettgestell gefesselt und mit ihrem eigenen Slip geknebelt worden. Dann hatte er ihr noch einen Schal um den Mund gebunden. Man sah nur noch die kleineNase und braune, dunkle Augen, die bis zum Äußersten geweitet waren. Tiefe Seen der Angst, aus denen man in langen Zügen trinken konnte.
»So einfach geht das«, hatte Eric ein paar Nächte vorher gesagt. Sie hatten bei Kerzenlicht im Wohnzimmer gesessen und geplaudert, während die Alte oben fest schlief. Eric kam gern nachts zu ihr herüber, um ihr bei Kerzenlicht Gesellschaft zu leisten – ohne Essen und Trinken –, nur um zu reden oder einfach schweigend dazusitzen. Schon seit Wochen hatte er ihr von seinen Plänen erzählt und ihr Bücher zu lesen gegeben. Er hatte sich über den Couchtisch gebeugt, wobei seine markanten Züge im Kerzenlicht noch stärker hervortraten, und dann die Flamme zwischen Daumen und Zeigefinger ausgelöscht.
Und dann hatte er es genau so gemacht: mit einem leichten Druck auf die Nasenflügel. Er löschte das junge Leben mit einem leichten Druck von Daumen und Zeigefinger aus. Es hatte überhaupt nichts Gewaltsames, von der verzweifelten Gegenwehr des Mädchens einmal abgesehen.
Edies Knie hatten gezittert, und sie hatte sich übergeben wollen, doch Eric hatte sie fest in die Arme genommen und ihr dann eine Tasse Tee gemacht. Er hatte ihr erklärt, dass es eine Zeit brauche, sich daran zu gewöhnen, aber dafür sei es auch mit nichts zu vergleichen.
In dem Punkt hatte er Recht. Moral war bloß eine Erfindung wie die Geschwindigkeitsbegrenzung: eine Regel, an die man sich halten konnte oder auch nicht, ganz wie es einem passte. Eric hatte ihr klargemacht, dass man nicht gut sein musste. Es bestand kein
Zwang
, gut zu sein. Und diese Erkenntnis wirkte so durchschlagend, als hätte sie plötzlich Flugbenzin in den Adern.
Der Septembertag war ungewöhnlich heiß für die Jahreszeit, und als das Mädchen tot war,
Weitere Kostenlose Bücher