Gefrorene Seelen
stand auf und klopfte Schnee von seinen Jeans. »Was ich schon gesehen habe, geht dich gar nichts an.«
Edie drückte ab, verfehlte das Pappschild und sogar den Baum. Eric wurde darauf gleich wieder freundlicher. Er war den ganzen Morgen guter Stimmung gewesen; das war er immer, wenn sie einen Gast hatten. Einen Gast zu haben löste etwas in ihm aus. Heute früh gleich nach dem Wecken hatte er sie mit einem Abstecher in den Wald überrascht. Er schlug Schießunterricht vor, und da wusste sie, dass der Tag gut werden würde. Er fasste sie von hinten und korrigierte ihre Haltung. »Macht nichts. Wenn es zu einfach wäre, würde es keinen Spaß machen.«
»Warum zeigst du es mir nicht? Ich möchte es sehen, wie du es machst. Dann könnte ich es leichter nachmachen.« Ihre Ergebenheit ihm gegenüber wirkte wie ein Zauberwort. Es wirkte immer.
»Du möchtest also sehen, wie es der Meister macht? Okay, dann pass gut auf, Baby.«
Edie lauschte mit zur Seite geneigtem Kopf wie ein Hundejunges, während Eric noch einmal auf die einzelnen Punkte einging. Er zeigte ihr die richtige Haltung, den Griff, die leicht geduckte Stellung und das Visieren entlang des Pistolenlaufs. Er war in seinem Element, wenn er ihr etwas zeigen und beibringen konnte, Dinge, die er in Toronto, Kingston oder Montreal gelernt hatte. Edie war, abgesehen von einer Klassenfahrt nach Toronto, in ihrer Highschool-Zeit nie aus Algonquin Bay herausgekommen. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie noch nie eine eigene Wohnung gehabt und noch nie jemanden wie Eric kennen gelernt. Jemand, der so selbstsicher war. Und so schön.
Edies Tagebuch, 7. Juni vergangenen Jahres:
Ich verstehe gar nicht, wie er sich mit einem hässlichen Ding wie mir abgeben kann. Bei meinem abstoßenden Gesicht und vorn flach wie ein Brett. Er weiß ja gar nicht, wie hinreißend gut er aussieht. So schlank, dabei muskulös, und seine Art zu gehen
–
leicht geduckt
–,
da bekomme ich gleich weiche Knie
. Sie stellte sich sein Gesicht mit den zartenKnochen und harmonischen Zügen auf einer zwölf Meter breiten Kinoleinwand vor. Für alles, was er tat, könnte man Eintritt verlangen.
Diese Schatten unter den Augen geben ihm etwas von einem Künstler, als ob ihn ein Dämon treibt. Ich sehe ihn oben auf einer Klippe am Meer, das Haar vom Sturm zerzaust und mit wallendem weißen Schal
.
Er war mit einem Rasierwasser und einer Packung Papiertaschentücher an ihren Tresen bei Pharma-City gekommen und hatte sie nach Batterien und einer kleinen Packung PowerUp gefragt.
Ich bin verloren
, hatte sie am Tag, als er den Drugstore betrat, in ihr Tagebuch geschrieben.
Ich habe den mächtigsten Mann des Universums getroffen. Sein Name ist Eric Fraser, er arbeitet im Troy Music Centre, und sein Gesicht sieht für mich göttlich aus. Diese Augen!
Von Zeit zu Zeit las sie in ihrem Tagebuch, um sich in Erinnerung zu rufen, wie leer ihr Leben gewesen und wie erfüllt es seit der Bekanntschaft mit Eric Fraser war.
Sogar sein Name ist schön
.
»Haben Sie das schon mal probiert?«, hatte er sie gefragt. Sie sahen einander an, während der Geschäftsleiter die Kasse betätigte.
»Das ist so ein Weckmittel, oder? Koffeinhaltige Tabletten?«
»Oh, durchaus möglich, dass auf dem Beipackzettel etwas von Koffein steht. Schreiben können die, was sie wollen. Aber glauben Sie mir, mit PowerUp kann man erstaunliche Sachen machen.«
»Die ganze Nacht wach bleiben, so was?«
Doch er hatte sie nur verschlagen angelächelt und mitleidig den Kopf geschüttelt. »Erstaunliche Sachen.«
Sie hätte sich niemals träumen lassen, wie erstaunlich.
Ganz in Schwarz war er gekleidet gewesen und schmal wie ein Laternenpfahl. Wenn er dann noch seine Sonnenbrille aufsetzte, hätte man wetten können, dass er in einer Underground-Band spielte. Sie wunderte sich immer noch, dass so ein gut aussehender, cleverer und weltgewandter Mann wie Eric Fraser sich für einMauerblümchen, eine Verliererin wie sie, Edie Soames, interessierte. Drei Tage vor dem ersten Tagebucheintrag, in dem sie Eric Fraser erwähnte, hatte sie noch geschrieben:
Ich bin nichts, mein Leben ist nichts, ich bin eine dicke runde Null
.
Eric ging zur Zielscheibe, um nachzuschauen, und zog Atemwolken hinter sich her, die wie Federn aussahen. Ganz in Schwarz, mit abstehenden Haaren und dunkler Sonnenbrille war er eine befremdliche Gestalt in der Schneelandschaft. Als er zurückkam, hielt er die Pappscheibe wie eine Trophäe in die Höhe. »Gut
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