Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
darf, besser gesagt, das Verschweigen der Wahrheit, für den das Aussprechen der Wahrheit nur unter Inkaufnahme unangemessener und erheblicher und existenzbedrohender Nebenwirkungen möglich wäre.
Würde er einem psychisch labilen Patienten eine psychisch extrem belastende Diagnose mitteilen? Auf gar keinen Fall.
Am Sonntagmorgen bereitete Vollmann das Frühstück zu. Danach ging er laufen, während Monika, die unter der Woche gelegentlich in einem Fitnessstudio lief, die vorbereiteten Kisten mit den Kindersachen ins Auto lud und schon mal zur Schule fuhr. Sie machten das nicht wegen des Geldes, natürlich nicht, es würde Spaß machen, auch, weil man mal wieder ein paar Worte mit den Eltern der anderen Kinder aus Linos Grundschulklasse wechseln konnte. Als Vollmann wieder die Wohnung betrat, läutete das Telefon. N. war am Apparat.
Sie hatten nie darüber gesprochen, aber es war bisher klar gewesen, dass er am Wochenende nicht verfügbar war. Sie kannte schließlich seine Situation, über so etwas musste im Grunde gar nicht gesprochen werden.
Was war?
N. sagte, sie habe Sehnsucht. Sie habe einfach nur seine Stimme hören wollen. Ach so, sagte Vollmann, und spürte, dass er sich verstimmt und kalt anhörte.
Wenn Monika am Apparat gewesen wäre, hätte N. vermutlich aufgelegt. Im günstigsten Fall. Und damit wäre der Ärger, unnötiger, nutzloser Ärger, doch wohl losgegangen, ein eiternder Blinddarm für nichts. Als ob man sich, guten Willen vorausgesetzt, nicht mal drei Tage beherrschen könnte.
Zum ersten Mal spürte Vollmann in sich einen Impuls, diese Geschichte zu beenden. Lag ihr gemeinsamer Zenit denn nicht schon hinter ihnen? Was sollte jetzt noch kommen, außer Wiederholungen? Wollte er wirklich, nein, eventuell, mit N. sein weiteres Leben verbringen, mit einer Frau, die Sklavin ihrer Stimmungen war und kein Bett überziehen konnte und deren Stärke eindeutig nicht in der Rücksichtnahme auf andere bestand? Aber er fasste sich gerade noch rechtzeitig. So etwas brach man besser nicht übers Knie, und selbst wenn er innerlich zu diesem Entschluss gelangte, musste das nicht sofort passieren. Außerdem war er, in der ersten Zeit, auch mit Monika manchmal am Rande des Abgrunds gewesen. Dann macht man eben einfach weiter, und es wird schon.
Er sagte N., dass auch er sich nach ihr sehne, ein Satz, der ihm, während er ihn aussprach, vollkommen banal und blödsinnig vorkam. Seine Gefühle für N., die es zweifellos gab, waren jedenfalls in ihrer Symptomatik komplexer und schwieriger zu diagnostizieren, als dieser Satz es wiedergab. Er sagte, dass sie sich am Montagabend sehen würden, es seien nur noch sechzig Stunden, eine Zahl, die er schätzte, die aber ganz bestimmt unrichtig war. Dann legte er auf.
So weit dieses. Jetzt eine Zigarette. Falls N. sich solche Wochenendanrufe zur Gewohnheit machte, musste er sich warm anziehen. Apropos, es war tatsächlich kühl geworden.
Vollmann zog seinen alten karierten Blazer mit den Lederflecken am Ellbogen an, den Monika schon vor Jahren am liebsten zur Altkleidersammlung gegeben hätte. Nun, für solche Gelegenheiten wie einen Flohmarkt war dieses Stück genau richtig. Er traf im Treppenhaus eine Nachbarin, grüßte, wurde zurückgegrüßt, trat auf die Straße und registrierte, dass er zu jedem Haus, zu jedem Laden in dieser Straße ein Detail zu erzählen wusste. Hier hatte bis vor Kurzem ein berühmter Schauspieler gewohnt, dort war, vor der Videothek, früher ein Gemüseladen gewesen. Der Blumenhändler würde in genau drei Jahren in den Ruhestand wechseln, dann würde seine Tochter mit ihrer Boutique, zurzeit Tempelhof, in diese deutlich bessere, weil Ku’damm-nahe Lage wechseln. So war das. Wie ein Lebensmittelladen, in dem man seit Langem Kunde ist und die Butter auch mit verbundenen Augen finden würde, das war gut, das sparte Energie. N. ließ sich treiben, ganz anders als er, der sein Leben – wann eigentlich? während des Studiums? – im Großen und Ganzen geplant und dann wie geplant umgesetzt hatte. Sie tat sich schwer mit Entschlüssen und überließ vieles dem Zufall oder der Intuition, das fand er reizvoll, aber auf die Dauer doch auch mit zahlreichen Kontraindikationen versehen.
In solche ziellosen Gedanken versunken, steuerte er die Schule an, an deren Fassade ein handgemaltes Plakat auf den Flohmarkt aufmerksam machte. Vollmann suchte einen Parkplatz, nicht einfach in dieser Gegend. Aus Prinzip stellte er sich niemals an eine Parkuhr, das
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