Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
sah er nicht ein in Anbetracht seiner hohen Steuerbelastung. Irgendetwas musste der Staat als Gegenleistung schon liefern. Vollmann musste dann weit laufen, und als er sich, mit fast einer Stunde Verspätung, was normalerweise nicht seine Art war, der Schule näherte, schließlich den Hof mit seinem bunten Markttreiben betrat, sah er von ferne N., die ein etwa zweijähriges Kind auf dem Arm hielt und einen Mann küsste, der einen olivfarbenen Anorak trug.
Als er näher ging, bemerkte er seinen Irrtum. Die Frau war in ungefähr dem gleichen Alter, es gab eine weitläufige Ähnlichkeit, gewiss, aber das, was ihn getäuscht hatte, war vor allem der Schal der Frau, ein lila Wollschal mit grauen Hasengesichtern, der bis ins Detail dem selbst gestrickten und selbst entworfenen Exemplar von N. glich, eine wirklich merkwürdige Duplizität. Den gleichen Schal besaß er auch selbst, ein Geschenk von N., weil er die Hasengesichter, wie er behauptet hatte, so reizend fand, was natürlich in Wirklichkeit überhaupt nicht der Fall war. In Wirklichkeit war dieser Schal in seiner pseudokindlichen Aufmachung eine ästhetische Katastrophe. Er erkannte N., die doch eine kluge und belesene Person war, auch eine sinnliche, in ihrem Geschmack manchmal überhaupt nicht wieder. Und offenbar war dieses gute Stück ihr Standardgeschenk, anders konnte es nicht sein, diese Frau war eine Freundin von N., dachte er, für kurze Zeit gekränkt. War er denn nichts Besonderes für sie? War er so austauschbar, dass er nicht einmal ein individuelles Schaldesign verdiente, war er in ihrem Herzen denn nur ein Kassenpatient, aber zum Gekränktsein hatte er wenig Zeit, denn inzwischen war er an Monikas Stand angelangt.
Vor Monika ausgebreitet lagen auf einem Tapeziertisch die Überreste von Linos Kindheit, die mit kleinen handgeschriebenen Preisschildchen versehen waren, Quartettkarten, eine Plastikpistole, Autos mit Fernsteuerung, eine Spielesammlung, ein Faschingskostüm, Bajazzo, das hatte Lino nicht einmal angezogen, das fand er doof. Da hätte Monika ihn mal besser vorher gefragt. Und zwischen dem Kinderkram erkannte er andere Gegenstände, die mit Lino nichts zu tun hatten, ein buntes Glas, in das Teelichter passten, ein hellblauer Teddybär, ein Bratenthermometer, alles mit den gleichen Preisschildchen beklebt wie der Rest des Angebots. Unter dem Tapeziertisch stand die alte Weinkiste, Mouton Rothschild, und Monika stand dahinter, die das alles nach und nach ausgepackt haben musste, bei laufendem Verkaufsbetrieb, sich wundernd, wie Vollmann annahm, aber mit unerschütterlichem Vertrauen, dass die Welt, ihre Welt, richtig eingerichtet war und dass dort jedes Teil seinen guten und richtigen Platz hatte.
Monika musste diese Gegenstände, Stück für Stück, mit wachsender Verwunderung betrachtet und ihren Flohmarktpreis geschätzt haben, meistens eine Mark, wie Vollmann registrierte, bis sie schließlich den Grund der Kiste erreichte und dort auf die etwa zwanzig Briefe stieß, die von N. alle sauber datiert waren und zum Teil von großer Leidenschaft getragen. Monika hielt einen Brief in der Hand und las, eine potenzielle Käuferin nahm das Bratenthermometer in die Hand und fragte etwas, aber Monika gab ihr keine Antwort, sie war von dem Brief völlig gefangen. Schließlich legte die Kundin das Bratenthermometer wieder weg und ging weiter. Monika blickte auf.
Vollmann lächelte sie an. Er wusste jetzt wirklich nicht mehr weiter. Exitus. Und dass ausgerechnet der Schal mit den Hasengesichtern als Erstes weggegangen war, wunderte ihn mindestens genau so sehr wie alles Übrige.
9
Born war es, bevor er mit N. zusammen war, nicht gewohnt, spazieren zu gehen. Er lief zweimal pro Woche, immer fünf Kilometer durch den Grunewald, immer auf derselben Strecke, um etwas für seine Gesundheit zu tun. N. aber ließ sich einfach so durch die Stadt treiben. Wenn sie zusammen hinaus auf die Straße gingen, schauten sie sich kurz an. Nach links oder nach rechts?
Einmal landeten sie, als es dunkel wurde, an einem Minigolfplatz. Born erinnerte sich daran, dass er in seiner Kindheit zwei- oder dreimal Minigolf gespielt hatte, er dachte, dieses Spiel gäbe es längst nicht mehr. Sie waren die einzigen Kunden, in den Bäumen glühten Lampions. Als ein Ball im Gebüsch landete, kroch Born durch die Sträucher und pfiff dabei die Marseillaise.
Ein anderes Mal standen sie nach mehreren Stunden an einem kleinen Tierpark, von dem Born nie gehört hatte, mit
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