Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
erzählte, wie Regenwürmer sich paaren, sie schmiegen sich aneinander und bewegen sich nicht, sie verschmelzen zu einem einzigen Wurm. Auf dem Rückweg ging Borns Fahrrad kaputt, die Kette sprang heraus, N. reparierte es. Es fing an zu regnen, und sie suchten auf der Straße nach sich liebenden Regenwürmern. Aber die Regenwürmer waren nicht in Stimmung.
Nachts rief N. Born manchmal an und verlangte, dass er Bullshit redete. Es hatte damit angefangen, dass sie an einem warmen Tag vor dem Café Santiago saßen, wo sie oft zusammen frühstückten und Zeitung lasen. Die Kommentare haben meistens einen ganz bestimmten, wichtigtuerischen Sound, den Born lächerlich fand, er versuchte, das zu imitieren.
Die Bevölkerung von Berlin-Kreuzberg nimmt nun bereits im dritten Jahr zu großen Teilen ihr Frühstück im Café Santiago ein, eine Entwicklung, auf die von der Politik noch keine Antwort gefunden wurde. Obendrein ist abzusehen, dass sich das Café Santiago in den kommenden Jahren noch stärker in den Vordergrund der gastronomischen Entwicklung der geteilten deutschen Hauptstadt schieben wird, fehlt es doch in den umliegenden Straßen an überzeugenden Alternativen. Offensichtlich greifen hier die Mechanismen der Marktwirtschaft nur unvollkommen. Der Ruf nach staatlicher Intervention wird, auf mittlere Sicht, nicht ausbleiben. Doch die Politik wäre gut beraten, wenn sie weiter auf die private Initiative vertraut.
Das war Bullshit. Wenn N. anrief, weil sie nicht einschlafen konnte, gab sie Born ein Thema, und Born versuchte, dazu Bullshit zu produzieren, möglichst langsamen und monotonen Shit, inhaltlich ganz dünn, wie Wasser, das gleichmäßig in eine Wanne fließt, so lange, bis N. müde war. Es durfte kein völliger Quatsch sein. Es musste schon irgendwie einen Sinn ergeben und eine gängige politische Idee oder eine völlig unoriginelle These enthalten.
Nach ein paar Minuten flüsterte N.: »Genug gebullshittet, Bärchen, schlaf gut«, und legte auf.
Wirst du jemals für eine andere Frau Bullshit reden, fragte N., Born antwortete, nein, niemals. Wenn ich jemals mit einer anderen zusammen sein würde, dann würde ich mir eben etwas anderes einfallen lassen. Mein Bullshit gehört dir auf ewig.
Wirst du jemals mit einem anderen Mann in den Zoo gehen, fragte Born, nein, niemals, sagte N., der Zoo ist mein Geschenk an dich.
Und wenn eines Tages tolles Wetter ist und Sonntag und der Mann, mit dem du zusammen bist, plötzlich vorschlägt, in den Zoo zu gehen?
Dann sage ich ihm, dass ich eine Tierhaarallergie habe. Dann werde ich an dich denken und traurig sein. Aber vielleicht sind wir ja nie wieder mit jemand anderem zusammen.
Das ist unwahrscheinlich.
Ich möchte nie wieder jemandem meine Lebensgeschichte erzählen müssen. Weißt du noch, damals. Das ist ein schöner Satz. Den will ich aussprechen.
Das wollen alle. Niemand schafft es.
Manche schon.
N. wollte wissen, mit wie vielen Frauen Born schon geschlafen hatte. Born log, er sagte: zehn. In Wirklichkeit wusste er die Zahl nicht genau, es waren um die zwanzig.
Der deutsche Durchschnitt, sagte N., sind neun, im Laufe eines Lebens, bei den Männern. Und sechs bei den Frauen. In diese Zahl gehen aber auch die älteren Generationen ein. Da gibt es sicher etliche, die ihr Leben monogam verbracht haben. Und dann gibt es Leute, die überhaupt keinen Sex haben, das sind gar nicht so wenige. Fünf Prozent? Also, in unserem Milieu und in unserer Altersgruppe schätze ich, dass man im Laufe des Lebens mit, im Durchschnitt, zwanzig bis dreißig Personen schläft. Fünfundzwanzig, eine Schulklasse. Da liegst du zurück. Du arbeitest zu viel.
Und du, fragte Born.
Neunundzwanzig, sagte N. und lachte so, wie sie immer lachte, wenn sie ihn auf den Arm nahm.
Dann kannst du dich jetzt beruhigt mit mir zur Ruhe setzen, sagte Born. Ich verzichte auf die fünfzehn, die mir statistisch noch zustehen. Meine fünfzehn Gutscheine spende ich für Notleidende. Ich spende meine fünfzehn nicht ausgenützten Sexualpartner an kirchliche Institutionen und Altenheime.
Ich will mich sowieso zur Ruhe setzen, sagte N. Ja, ich will.
N. sagte immer das, was Born selbst als Entgegnung zu seiner eigenen Bemerkung in den Sinn gekommen wäre, wenn er genug Zeit zum Nachdenken gehabt hätte.
Wenn alle etwas wollen, sagte Born, zum Beispiel die ewige Liebe, und es gelingt fast niemandem, dann muss eben eine Erfindung her. Eine Genmanipulation vielleicht. Die Grünen werden natürlich
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