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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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er fand ihren Gang entzückend, und fast so sehr wie die Kopulation als solche genoss er die gemeinsamen Spaziergänge in von seiner Praxis weit entfernten Berliner Randgebieten, die Gespräche über Kunst, Musik und Literatur, Gebiete, auf denen sie bewandert war, ohne mit ihrem Wissen zu protzen, und das gemeinsame Lachen über alles Mögliche. Vollmann wusste gar nicht, dass er im Grunde ein sehr fröhlicher Mensch war. Wohin sollte das führen?
    In ihrer Wohnung allerdings fühlte er sich unwohl. Diese Wohnung trug alle Attribute einer Studentenbude. Statt einer Küche gab es nur ein Brett, das lose über eine Waschmaschine und eine Spülmaschine gelegt war, darauf Gewürztüten, hastig in Pappschachteln gestopft, geöffnete Dosen, zerknüllte Milchtüten, einen leeren Wäscheständer, der stets unaufgeräumt den Flur blockierte, angeschmutzte Kleidung über Sesseln und Sofas, einen überlaufenden Papierkorb, Berge von zerfledderten Zeitschriften, wohin man schaute. Am schwersten tat Vollmann sich mit dem Bett, dessen Bezüge er nicht nur als fast immer stark reinigungsbedürftig empfand, sondern auch als falsch bemessen. Wenn er bei N. zu übernachten versuchte, knüllte sich die Bettdecke in dem zu großen Bezug zusammen, der ihr keinen Halt gab, und er hatte es mit einem leeren, wie greises Bindegewebe herumschlabbernden Bezug zu tun, in dessen Mitte sich ein geschwulstartiger Deckenkorpus zusammenballte. Konnte ein Mensch so schlafen? Konnte ein Mensch, der nicht schlief, einem anstrengenden und verantwortungsvollen Beruf nachgehen? Beides, nein.
    Vollmann wollte mit N. nicht über ihr Verständnis von Häuslichkeit diskutieren, so etwas ist, in Anbetracht der zur Uneinsichtigkeit neigenden Conditio humana, immer zwecklos. Er lud sie immer häufiger zu sich ein, wissend, dass er damit eine gefährliche Grenze überschritt, nicht fähig, einen begehbaren Pfad jenseits dieser Grenze zu finden.
    N., in Monikas Lieblingssessel sitzend. N., nackt am Kühlschrank stehend, Monikas fettarmen Joghurt mit zwei Fingern auslöffelnd. N. in den Hausschuhen von Monika zur Dusche gehend.
    Vollmann fühlte sich schlecht bei diesem Anblick, es zog sich etwas in ihm zusammen, eine Kontraktion, als ob sein Seelenmuskel sich aktiv verkürzte. Aber er lächelte.
    Als Monika an diesem Freitagnachmittag zurückkehrte, um bis zum Montagabend zu bleiben, das Büro hatte sich auf diese großzügige Regelung eingelassen, zog er sie mit einem Feuer an sich, wie er es lange nicht mehr in sich gespürt hatte. Das war eben das Verrückte an diesen Sachen, der andere oder die andere wird einem durch so eine Tat, manchmal zumindest, wertvoller, wie ein Kind, das man vernachlässigt oder gedankenlos angeschrien hat und auf dessen weinendem Gesicht man mit einem Mal die Liebe liest, die man in dem Moment, in dem es angebracht gewesen wäre, nicht hat zeigen können. War er schuldig? Immer wieder diese Frage. Vollmann war sich trotz allem nicht sicher, nein, »Schuld« war nicht das richtige Wort. Das war falsch eingerichtet, die Welt war, in diesem Punkt, falsch eingerichtet.
    Am nächsten Morgen gingen sie auf den Markt und kauften ein. Sie setzten sich in ein Café und trafen ein paar Bekannte, die sich zu ihnen setzten und mit denen sie ein wenig plauderten. Monika fiel wieder ein, dass es am Sonntag einen Flohmarkt in Linos ehemaliger Schule gab, besser gesagt auf dem Schulhof. Eine gute Gelegenheit, Andreas’ altes Spielzeug loszuwerden, das seit Jahren hier und dort herumlag und das sie, anfangs, für ihre Enkelkinder aufheben wollten, eine dumme Idee, der Geschmack der Kinder ändert sich zu schnell. Und ob es überhaupt Enkel gibt und wann, das weiß man ja nun auch nicht. Am Abend gingen sie ins Kino, danach aßen sie in einem Restaurant, das sie mochten und in dem sie lange nicht gewesen waren.
    Vollmann war sich sicher, dass dieser Tag ohne die Existenz von N. kein bisschen anders verlaufen wäre, und wenn, dann wäre er womöglich etwas weniger konzentriert und etwas weniger dankbar für die unveränderte Gegenwart ihrer Samstagsrituale gewesen. Umgekehrt änderte die Existenz von Monika nicht das Geringste an dem, was er mit N. erlebte und was ihn, so lose es auch sein mochte, mit N. verband. Das Problem, mit dem er es hier zu tun hatte, war nicht konkret, sondern abstrakt, kein Schmerz, sondern die Idee eines Schmerzes, ein Fall von Hypochondrie. Und die Frage war doch auch, ob jemandem eine Lüge zum Vorwurf gemacht werden

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