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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Martenstein
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Hirschen oder Rehen, er kannte den Unterschied nicht genau. Bei den Rehen hatten beide Geschlechter Geweihe. Bei den Hirschen nur die Männchen. Oder war es andersherum? N. glaubte, es hänge mit der Größe zusammen. Große Tiere haben Geweihe, kleine Tiere nicht. Ein alter Mann ohne Zähne trug eine Plastiktüte, er fütterte die Tiere mit altem Brot, es muss wohl in Neukölln gewesen sein. Während er die Rehe oder Hirsche fütterte, trank der Mann aus einer Büchse Bier. N. fragte ihn nach dem Unterschied, der Mann hielt eine lange Rede, aus der hervorging, dass er die Sache mit den Rehen und den Hirschen auch nicht wusste.
    N. plauderte mit ihm. Wo wohnen Sie, kommen Sie oft her, haben Sie ein Lieblingstier. Sie kam mit jedem sofort ins Gespräch. Born bewunderte das. Für Born waren Gespräche anstrengend, er hörte lieber zu. Reden bedeutete, dass man etwas darstellen musste, man musste jemand sein. Born hatte keine Lust, in seiner Freizeit auch noch etwas darzustellen.
    Der Mann hatte nikotinfleckige Finger und fettige Haare, er schimpfte auf die Türken. Die türkischen Jugendlichen würden nachts über den Zaun klettern und Tiere stehlen, um sie zu schlachten. Vor allem auf Schafe sind sie scharf, sagte er. So etwas komme ständig vor. N. widersprach ihm nicht, das fand Born klug. Der Mann beruhigte sich wieder, er war nicht bösartig.
    Manchmal entdeckten sie ein Café oder ein Restaurant, manchmal redeten sie stundenlang und blieben nach zwei Stunden stehen, überrascht, weil sie in Tempelhof waren oder sogar in Reinickendorf. Sie waren sich darüber einig, dass man auch miteinander schweigen darf. Man muss nicht immer reden. Einmal sagte N., dass es für sie das Größte sei, sich mit jemandem langweilen zu können, ohne dabei ein schlechtes Gefühl zu haben. Gemeinsame Langeweile und gemeinsames Schweigen seien Zeichen für geglückte Nähe.
    Aber sie langweilten sich nie. Es fiel ihnen immer etwas ein, was sie dringend erzählen wollten oder wozu sie die Meinung des anderen interessierte. Born schrieb, bevor sie sich trafen, manchmal kleine Zettel, damit er nichts vergaß von dem, was er ihr erzählen wollte. Er achtete darauf, dass N. die Zettel nicht bemerkte.
    Du bist ein Mensch, den ich nie langweilig finden könnte, sagte er zu N., also finden wir, wenn deine Theorie stimmt, niemals das wahre Glück. N. sagte: »Das kommt schon noch.«
    Der Rummelplatz, an dem sie ankamen, war groß und schmutzig, seltsam, sagte N., dass nichts darüber in der Zeitung gestanden hat. Berlin, antwortete Born, ist zu groß für die Zeitung. Er schoss an der Schießbude für N. eine Rose. Born hatte noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt. Zielen war einfacher, als er dachte. Schwierig war nicht das Zielen und Treffen, sondern das Gewicht des Gewehrs. Besser, man stützte sich auf. Danach nahm N. das Gewehr und schoss so lange, bis auch sie eine Rose hatte. Dann tauschten sie ihre Rosen feierlich aus und fuhren Autoscooter, bis sie keine Lust mehr hatten.
    N. sagte, dass Born gut Scooter fahren konnte, was nicht stimmte, aber N. lobte Born gern, er lobte sie dann zurück, sie nannten das »Rumschleimen«. Wenn Born etwas Lobenswertes an ihr entdeckte, fragte er: »Entschuldigen Sie, Frollein, hätten Sie was dagegen, wenn ich eventuell mal eben ein bisschen rumschleime?« Sie sagte dann: »Wollen Sie was von mir?« Er sagte: »Merkt man das etwa?«
    Die restlichen Chips schenkten sie zwei türkischen Kindern, acht oder zehn Jahre alt, Brüder offenbar, die mit sehnsüchtigen Augen am Rand der Fahrfläche standen.
    Born sagte, einige der besten Momente des Lebens bestünden daraus, dass man wieder Kinderdinge tut, diesmal jedoch mit dem Bewusstsein der Vergänglichkeit, das man als Kind nicht haben kann. Als Kind weiß man das Glück nicht zu schätzen. Als Kind habe ich mich dauernd unglücklich gefühlt. Vielleicht war ich als Kind aber glücklich und habe es bloß nicht gemerkt.
    Sie fuhren auch gern in den Zoo. Sie versuchten, so viele Tierarten wie möglich beim Geschlechtsverkehr zu beobachten. Am erfolgreichsten waren sie bei den Affen. Affen haben immer Lust, wie die Menschen. Manchmal standen sie zwei Stunden bei den Pavianen und versuchen vorherzusagen, welche Paare sich finden. Der Jüngling dort würde gut zu der kleinen Schüchternen passen, die findet ihn sicher sexy, weil sie sich noch leicht beeindrucken lässt. Aber es klappte selten. Auch die Affen waren in ihrer Partnerwahl unberechenbar.
    N.

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