Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
einer Schicht alter Bücher aus seiner Studentenzeit, die er aussortiert hatte und wegzuwerfen nicht über sich brachte.
Das alles war nicht schön, das wusste er. Es war, für sämtliche Beteiligten, nicht ideal. Aber anders ließen sich diese Dinge eben nicht handhaben.
Seit Monika Vollmann als Bauingenieurin in Westdeutschland arbeitete, sahen sie einander fast nur noch am Wochenende, ihrer Ehe, fand Vollmann, tat das ganz gut. An den Wochenenden hatten sie einander viel zu erzählen und konnten sich ganz aufeinander konzentrieren, gemeinsames Theater, Kino, Essen, der öde, zermürbende Alltag fiel weg. Andreas, ihr Sohn, studierte in den USA, demnächst wollten sie da mal hinfahren.
Sie befanden sich in einer Lebensphase, auf die sie sich seit Langem gefreut hatten, der Junge groß und flügge, genug Geld war da, genug Zeit, und sie waren noch jung genug für alles Mögliche, nicht einmal fünfzig.
Vollmann verstand natürlich, dass Monika es beruflich noch einmal wissen wollte. Sie hatte spät studiert, dieses für eine Frau doch einigermaßen ungewöhnliche Fach, da änderten sich die Zeiten, gewiss, aber eben nur nach und nach. Das war jetzt endlich eine verantwortliche Position und kein Handlangerjob. Das Bauingenieurswesen war ein weites Feld, im Grunde alles, was mit der Berechnung und der Sicherheit von Bauwerken zu tun hat. Im Augenblick fand da eine kleine Revolution statt, weil neuerdings mit Computern gearbeitet wurde und weil Umweltschutz und Lärmschutz wichtiger wurden. Monikas Spezialgebiet hieß Tunnel- und Stollenbau, sehr zukunftsträchtig, und zwar ausgerechnet deshalb, weil kein vernünftiger Mensch mehr am Bau von Tunneln und Stollen interessiert war. Wenn ein Bergwerk aufgegeben wurde, mussten alle möglichen Berechnungen angestellt werden, um dauerhaft verhindern zu können, dass der Tunnel einstürzte oder dass Wasser eindrang. Manchmal aber war es genau umgekehrt, es war notwendig, den Stollen zu fluten, das hing eben ganz von den Umständen ab. Der Fachbegriff für dieses ganze Zeug lautete »Verwahrung von tagesnahen Hohlräumen«. Vollmann fand das interessant. Da gab es also, im Ruhrgebiet und anderswo, eine unterirdische Welt, die, möglichst für alle Ewigkeit, vor dem Zusammenbruch gerettet werden musste, obwohl sie nicht mehr gebraucht wurde.
Die Sache mit N. lief seit ungefähr zwei Jahren. Sie hatten sich in Vollmanns Praxis kennengelernt, N. war beim Waldlauf über eine Wurzel gestolpert, Knöchelfraktur. Vollmanns erster Fehltritt war das nicht, aber der erste mit einer Patientin, obwohl es da weiß Gott genug Gelegenheiten gab, und der erste, bei dem sich eine gewisse Stetigkeit und eine Verfestigung herausbildete. In den übrigen Fällen hatte er sich sehr schnell wieder zurückgezogen, an Komplikationen, Knötchenbildung und Ausaperungen bestand seinerseits kein Bedarf.
Er hielt sich für einen durchschnittlichen Gatten, weder nahm er jede Chance wahr, noch war er ein Heiliger. Anders ging es doch auch überhaupt nicht. Wer an die Dinge des Lebens nicht mit einem gewissen Quantum an Realismus herangeht, kann einem nur leidtun, da helfen wohl nur Antidepressiva. Nicht schön, das alles, aber der Mensch, sagte sich Vollmann, ist nicht auf seelisch-moralische Schönheit hin konstruiert, sondern er ist aufs Überleben der Gattung programmiert, mit allen hormonellen Konsequenzen, die so etwas mit sich bringt.
Er wünschte, er könnte mit Monika darüber reden, ganz ruhig. Das wünschte er wirklich. Oder vielleicht nicht einmal reden, sondern diese Sache ganz einfach, beiderseitig und ohne Gerede, akzeptieren, wie man auch eine gelegentliche Influenza am besten einfach akzeptiert, alles andere ist doch Blödsinn. Er litt, wenn er litt, dann unter dem Zwang, eine Person, die er schätzte, die er respektierte und mit der er gerne den Rest seines Lebens verbringen wollte, anlügen zu müssen. Er hatte deswegen ein schlechtes Gewissen, das ja. Aber er fühlte sich nicht schuldig, das nein.
Ein Teil seines Lebens, so würde er das Monika am liebsten erklären, war in einem tagesnahen Hohlraum verwahrt.
Mit N. war es denn doch ein wenig anders, insofern, als er das Zusammensein mit N. in einer Weise genoss, die ihm vorher unbekannt gewesen war, und um eine Aggravation schien es sich ihm bei diesem seinen Eindruck nicht zu handeln, eher um eine Akzeleration. Und es ging dabei nicht nur um das Körperliche, den Akt, er sah N. auch bei anderen Gelegenheiten gerne in die Augen,
Weitere Kostenlose Bücher