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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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der Welt zu sein. Nach mehreren Anläufen hatte ich meine Craven angezündet, ich inhalierte tief, und der Rauch breitete sich bis in meine Fingerspitzen aus. Justine folgte dem Küstenpfad, wie eine Seiltänzerin balancierte sie auf dem schmalen Streifen Erde, den Heidekraut und Disteln, Samtgras und Meerträubel säumten. Ihr ausdrucksstarkes Gesicht war vom Haar halb verdeckt, sie hatte eine Sonnenbrille auf, deren schweres, dunkles Gestell ihre Haut noch weißer erscheinen ließ. Am Rand der Steilküste drehte sie sich um.
    »Kommen Sie, ich habe Lust spazieren zu gehen.«
    Ich war nicht sicher, ob man mich auch dafür bezahlte, aber ihr Stiefvater blechte ja, und nach dem, was sie erzählte, war der Typ ein Schwein. Ich fragte mich, ob sie das auch schon beim alten Raymond gemacht hatte, ich musste ungefähr zehn gewesen sein, als Papa ihn einstellte, jetzt war er im Ruhestand, ich ersetzte ihn, und er schob in seinem kleinen Haus am Hafen wahrscheinlich eine ruhige Kugel. Wir marschierten ein paar Minuten dicht am Abgrund entlang, der Pfad führte durch die niedrige Heide, manchmal war er überwachsen, und unsere Füße versanken im weichen Gras. Justine setzte sich auf einen Felsen. Der Wind zerrte an ihren Haaren. So blieben wir eine Weile, schweigend und nachdenklich, bittere Kräuter kauend, die Augen halb geschlossen. Im Westen dehnte sich die Küste wie eine zarte, mottenzerfressene Spitze, und weit draußen im Meer ahnte man, wie einen Nebelstreif, die Kanalinseln. Ich sah auf die Uhr. Es war Zeit zurückzukehren. Ich musste mich gewaltsam von der Stille und dem Licht losreißen.
    Justine kontrollierte ihren Rückspiegel und war bereit, den Motor anzulassen. Mein Telefon vibrierte, es war Alex, meine nächste Stunde fiel aus.
    »Ich habe Hunger. Gehen wir etwas essen?«
    Es war eine Frage, glich aber einem Befehl, sie blickte mich fröhlich an, wenn sie so strahlte, war sie ganz verändert. Dass ein Mädchen wie sie nichts Besseres zu tun hatte, als mit einem total verbrauchten Kerl, der dazu noch zwanzig Kilo Übergewicht hatte, essen zu gehen, war für mich ein Rätsel, aber ich versuchte nicht, es zu verstehen. Ohne auf irgendetwas zu achten, fuhr sie los, ein Wohnmobil konnte gerade noch ausweichen, und wenn ich an Gott geglaubt hätte, hätte ich ihm, glaube ich, gedankt für so viel Aufmerksamkeit. Justine war nicht einmal erschrocken, es schien sie nicht zu kümmern, sie trällerte einen alten Song der Stones. Wir fuhren mit 40 km/h, und die Pointe du Grouin ragte aus dem Meer, ich dachte an die Vögel, die dort nisteten, Sarah meinte, es seien Tausende, wir haben uns ins Gras gesetzt, um sie zu beobachten, es schien ihr nie langweilig zu werden. Zehn Minuten später waren wir im Hafen und kniffen die Augen zusammen, um die Bucht zu betrachten, das Wasser spiegelte so, dass es fast weh tat. Die Austernbänke waren kaum zu erkennen. Auf den Anhängern der Traktoren rauchten Männer mit Latzhosen und grünen Gummistiefeln inmitten der Körbe. Die Sonne fiel durch die Scheibe des Restaurants und brannte uns auf die Wangen. Justine stopfte sich mit Brot voll, während sie auf ihren gegrillten Fisch wartete. Ich hatte schon den ersten halben Liter Rotwein geleert, als mein Essen kam. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gesprochen haben. Über alles und nichts. Zweifellos ein bisschen über sie. Ende des Jahres würde sie achtzehn werden, mit dem Abitur in der Tasche konnte sie endlich weg von zu Hause, sie wollte ihr Glück in Paris versuchen, würde nehmen, was sich böte, Bedienung, Kassiererin, ganz egal, ihr Leben würde jedenfalls anderswo stattfinden. Sie war nicht sicher, ob sie es bis dahin aushielte, die Winter hier waren zu lang die Leute zu alt die Nächte zu dunkel, sie wollte Lichter Trubel Menschen, so stellte sie sich die Stadt vor, und ich wollte ihr nicht die Illusion nehmen.
    »Kennst du Leute dort?«
    »Nein. Aber ich lerne welche kennen. Wir werden sehen. Sowieso habe ich gar keine Wahl. Ich muss abhauen, bevor ich vollkommen durchdrehe. Irgendwo muss ich ja bleiben. Schlimmer als zu Hause kann es nicht werden.«
    Ich hatte den zweiten halben Liter Rotwein ausgetrunken und hörte ihr zu, ich fühlte mich einfach wohl, mir war heiß, und die flachen Austernboote steckten im Schlick. Sie fing wieder an zu trällern und sah mich von der Seite an, ich erinnerte sie an jemanden, einen Typen, der Bücher schrieb. Ich zuckte die Achseln und verlangte die Rechnung.
    Wir fuhren übers Land

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