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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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gelockert und die Leine mir mehr Spielraum gelassen als sonst.

»Hast du gesehen?«, fragte Manon. »Da drüben, das ist der Mann vom Umzugslaster …«
    Um uns herum kamen die Kinder in Trauben aus dem Schulgebäude; halb so groß wie ihre Ranzen, trippelten sie über den Hof, Familienvans schluckten sie in einem Radau von Motorenlärm und Türenschlagen. Ich schaute zum Tor, ein paar Mütter spähten nach ihrer Brut, die meisten schwanger oder mit Kinderwagen, in denen Säuglinge dösten. Sie waren in Sarahs Alter, wirkten aber älter, es war schwer zu erklären, etwas im Verhalten, der Haarschnitt, die Wahl der Kleidung. Eine Art Einverständnis. In den letzten Wochen war Sarah auch müde gewesen, man hatte es an ihrem Gesicht, ihren Schultern, der unmerklichen Krümmung ihres Rückens gesehen.
    »Wo denn?«, fragte ich.
    »Der Mann, da.«
    Ich folgte ihrem Finger, und sie hatte recht, fahl, mager, mit grauen Tränensäcken, stand er etwas abseits und beobachtete den Schulhof. Was machte er da? Soviel ich wusste, hätte er in Paris oder in Marseille sein müssen, ein riesiger Umzug, zwei Klaviere, eine Bibliothek und dreihundert Quadratmeter antike Möbel. Unsere Blicke kreuzten sich, seine hellen Augen spielten ins Durchsichtige. Ich nickte ihm zu. Er schien überrascht, mich zu sehen, und antwortete mit einer unbestimmten Geste, ich wollte zu ihm hin, als plötzlich Clément vor mir stand, mit nachdenklicher Miene. Ich hatte ihn nicht kommen sehen. Ich küsste ihn auf die Stirn, nahm seinen Schulranzen, und wir wandten uns zum Auto.
    »Na, war’s gut?«
    »Ja.«
    »Hast du Freunde gefunden?«
    Er zuckte die Achseln. Damit würde man sich begnügen müssen. Es war schon schlimmer gewesen. Ich öffnete den Kofferraum, um seine Sachen zu verstauen, er würdigte die lange schwarze Hülle, die auf der schmutzigen Matte lag, mit keinem Blick, das enttäuschte mich beinahe. Ich blickte zum Himmel, es sah gut aus, ein strahlendes Blau, kaum gedämpft von der zerzupften Watte der Wolken. Clément kroch seufzend auf den Rücksitz.
    »Weißt du«, versuchte es Manon, »ich hab eine Freundin gefunden. Sie heißt Jade. Das ist schön, oder? Jade …«
    »Na ja.«
    »Und ihr Vater ist Polizist, stell dir vor.«
    »Was geht denn mich das an?«
    Die Kleine steckte es ungerührt ein, sie war es gewohnt, die bedingungslose Liebe, die sie ihrem Bruder entgegenbrachte, und ihre Fähigkeit, ihm alles zu verzeihen, weckten Bewunderung.
    »He«, rief ich, »du könntest netter sein zu deiner Schwester …«
    Clément machte ein mürrisches Gesicht, und seine Augen funkelten vor unterdrücktem Zorn, den er nur noch nach außen richten würde, auf die reglose Landschaft, die parkenden Autos, die Bushaltestelle und den Blumenhändler, das Café und das Rathaus nebenan. Bevor ich losfuhr, warf ich einen letzten Blick zum Tor. Der Große war verschwunden. Jedenfalls war niemand mehr da. Nur ein paar Kinder, die in der Nachmittagsbetreuung blieben, im Rückspiegel sah ich sie auf Bänken sitzen und diskutieren, man würde sie erst abends abholen, sie wurden winzig und dann vollends unsichtbar, als ich in die Straße einbog, die zum Meer hinunterführte.
    Am Strand blies ein kräftiger, frischer Wind, stetig und ohne nachzulassen. Die wenigen Spaziergänger beugten sich vor, um voranzukommen, nur die Hunde schüttelten ihr Fell, als wäre nichts. Hier und da lagen Klumpen schwarzer Algen auf dem Sand, das ablaufende Wasser hatte sie da zurückgelassen, jetzt umspülte es kaum mehr die Forts vor der Küste. Ich warf einen Blick nach Westen, es würde nicht mehr lang dauern, bis am Ende des Strands die Altstadt aufflammte: Die Strahlen der untergehenden Sonne streiften die Wogen, und der Himmel begann sich rosa zu färben. Das Segel vibrierte in meinen Händen, ungeduldig flatterte es wie ein Vogel. Ich steckte das letzte Rohr in die Muffe, und das Ding blähte sich auf. Clément packte die Griffe, schrie »alles klar«, und ich ließ los. Der Drachen stieg mit einem Ruck auf, vollkommen senkrecht, unter dumpfem Summen. Ich lief zu Manon, die Gischt peitschte mir ins Gesicht. Sie hockte im Sand und zeichnete mit einem Stock Figuren, die mal eine Blume, mal ein Monster, dann wieder ein Haus und schließlich ihren Vornamen darstellen sollten. Man musste gutwillig sein, um irgendetwas darin zu erkennen. Wir kletterten auf einen Granitblock. Sie klammerte sich an meine Hand und hing nur an mir, während ihre Füße ins Leere rutschten. Wir

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