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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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einfach nur in eine Ecke, blätterte in Comics oder Kunstbüchern, während er auf seiner Gitarre klimperte und sie aus verzwirbelten Drähten, die sie um rote oder smaragdgrüne Steine wickelte, Schmuck bastelte. Im ersten Stock lebte Lucas mit seinem Vater, ich habe nie erfahren, ob er auch einmal eine Mutter hatte. Der Alte stank nach Bier, und jedes Mal, wenn ich ihm begegnete, lief es mir kalt den Rücken runter, er versuchte, einen nur aus Muskeln bestehenden schwarzen Molosser an seiner Leine in Schach zu halten, diesen Hund habe ich nie anders gesehen als mit blitzenden Fangzähnen unter hochgezogenen Lefzen. Manchmal erzählte mir Lucas von der Prügel, die er für irgendeine lächerliche Kleinigkeit bezog, wenn ich mit meinen Eltern darüber sprach, schüttelten sie ohnmächtig und traurig den Kopf. Was sollen wir tun?, sagten sie, stimmt, sein Vater trinkt zu viel, das weiß ja jeder, aber man muss ihn verstehen, er war nicht immer so, weißt du. Nein, wusste ich nicht, und ich sah nicht, was sich dadurch änderte. Ich denke oft an Lucas und frage mich, was wohl aus ihm geworden ist, falls überhaupt etwas oder jemand aus einem werden kann, wenn man so mit Angst und Ohrfeigen aufgewachsen ist. Ich stelle mir immer vor, ihm an einer Straßenecke zu begegnen, er ist hohläugig geworden, hat Zahnlücken und wächserne Haut, er sieht aus, als wäre er tausend Jahre alt. Das letzte Mal, als ich ihn sah, trug er seine Tasche auf dem Rücken, ich wohnte nicht mehr hier, aber wir sahen uns trotzdem noch, er war fünfzehn und wollte abhauen, er brauchte Geld, ich klaute etwas aus der Fahrschulkasse. Ich traf ihn am Bahnhof. Es war sieben Uhr morgens. Ich sehe noch den roten Himmel über den Gleisen vor mir, den alten Bahnhof mit dem beigefarbenen Putz, die krakeelenden Vögel auf dem Dach. Der Wind pfiff durch die Halle. Wohin fährst du?, hatte ich ihn gefragt. Er hatte lächelnd die Schultern gezuckt und sich dann auf den Bahnsteig getrollt, eine Zigarette zwischen den Zähnen. Es begann zu regnen.
    In Erinnerungen versunken fuhr ich schließlich weiter. Die Straßen waren verschwommen, wie verschleiert vom Nieselregen. Durch die Windschutzscheibe zerfloss alles, mitten in der Stadt streckte sich eine wilde Landzunge ins Meer, karge Heide und scharfkantige Steinblöcke. Verloren in Dornengestrüpp und Heidekraut, unter einer Flut von zartem oder auch dunklem Grün, ein Miniatur-Irland, überragte ein langes, bröckelndes Gebäude die Wogen. Rohre liefen über die Felsen hinab und senkten sich unter die Wasseroberfläche, pumpten das Wasser aus dem offenen Meer hoch. Auf gut Glück lüpfte man Planen und bahnte sich einen Weg, der Geruch von Algen und Krustentieren hinterließ einen Seeigelgeschmack auf der Zunge. Yann kreuzte auf, frisch geduscht, aber immer noch in einer Duftwolke von Austern, Krebsen, Venusmuscheln. Vom Morgengrauen bis in den Nachmittag tauchte er seine Handschuhe in die Becken, verpackte literweise Mies-, Jakobs-, Venusmuscheln, Meermandeln und Napfschnecken, reizte die Langusten, ärgerte die Samtkrabben, stopfte sie in Säcke oder Kisten, die dann in alle Ecken Frankreichs gingen, im Grunde pfiff er drauf, er verabscheute das ganze Zeug. Er liebte es, draußen seine Zigarette zu rauchen, den Wind im Gesicht, und im ersten Morgenschein hier anzukommen wie in einem unbekannten, unberührten und irgendwie feindlichen Land. Mitten am Nachmittag wieder zu gehen, sich aufs Motorrad zu setzen und aufs Geratewohl die Küste entlangzudüsen. Autos mochte er weniger, aber was half es, er würde sich damit abfinden müssen, seine Freundin erwartete ein Kind, ein Mädchen, er würde es Lola nennen, aber die um ihn geschlungenen Arme, ihre aneinandergeschmiegten Körper im Fahrtwind, von der Geschwindigkeit stabilisiert, das würde er dann schon vermissen. Er konnte sagen, was er wollte, er fuhr fabelhaft, ganz spielerisch, er schaltete pfeifend, quasselte unentwegt und blieb beim Einparken völlig locker. Eine Fahrstunde mit ihm war eine unterhaltsame Spazierfahrt. Mein erster Tag ging zu Ende, und die Dinge ließen sich gar nicht so schlecht an. Die Arbeit, so leicht sie auch war, lenkte mich ab und füllte die Stunden, dichtete die Risse und Löcher. Es war nur oberflächlich, das wusste ich, es war die Illusion der ersten Tage und würde so lang halten, wie es halten würde, aber ich musste zugeben, während sechs Stunden war Sarah nur flüchtig in meinem Gehirn aufgetaucht, der Griff hatte sich

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