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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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mich vergessen zu haben, nichts tat sich auf, nicht das bescheidenste Drehbuch, keine klitzekleine Lesung in einer Schule oder irgendeiner winzigen Bücherei der hintersten Provinz, es war eine Riesengefälligkeit von ihm, das wusste ich wohl, wie hatte ich sie überhaupt verdient? Die Kindheit lag weit zurück, selbst die Jugendzeit, und ansonsten war das Leben weitergegangen, wer weiß, ob wir miteinander gesprochen hätten, wenn wir uns auf der Straße oder anderswo begegnet wären, ohne uns zu kennen. Er hatte sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten, mich aber sofort wieder angerufen, ja natürlich, was glaubte ich denn, er werde doch seinen kleinen Bruder nicht im Stich lassen.
    Ich stieg in den Wagen, setzte mich auf den Beifahrersitz, bestimmt zehn Jahre hatte ich keine doppelten Pedale mehr berührt. Prüfend tastete ich mit dem Fuß danach. Mit der linken Hand griff ich zum Lenkrad, zum Schaltknüppel, zur Handbremse. Ich hatte nie Fahrstunden gegeben, ich hatte keine Ahnung, wie man sich verhalten sollte, aber mir fiel alles wieder ein. Ich kannte diese Autos wie meine Westentasche. Wir losten, und je nachdem übernahm Alex an dem Tag das Steuer und ich die Pedale oder umgekehrt, wir fuhren im Tandem durch die dunkle Nacht, wir kehrten sturzbesoffen aus den Kneipen zurück, und jeder von uns hielt eine Hälfte unseres Schicksals entweder in den Händen oder unter den Füßen. Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben, ohne Zusammenstoß und ohne Kratzer davonzukommen. Ich schaute auf meinen Zettel und forderte Justine auf zu starten. Soweit ich es beurteilen konnte, war sie um die achtzehn Jahre alt und kaute Nägel. Sie drehte den Zündschlüssel und ihr Fuß trat aufs Gas. Der Motor heulte auf.
    »Langsam …«
    Sie ließ alles los und sah mir direkt in die Augen.
    »Ich tue, was ich kann.«
    Ich begriff sofort, mit wem ich es zu tun hatte.
    Wir bogen in eine enge Straße ein, ganz am Ende konnte man das Meer erkennen, von hier aus war es nichts als ein Stahlband, ein Aluminiumglitzern. Justine fuhr unsanft, trat so heftig in die Bremse, dass wir an die Windschutzscheibe geschleudert wurden, schaltete nur, wenn ich sie anwies, ihre Unwilligkeit wurde nur noch von ihrer ätzenden Laune übertroffen. Wir schafften es trotzdem, aus der Stadt herauszukommen, nicht ohne zwei, drei Fußgänger in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Die Häuser wurden weniger, die Straße immer leerer, kein Hindernis erhob sich mehr vor uns, die Kurven schmiegten sich an die zerklüftete Küste. Wir fuhren an Kohlfeldern, an Reihen kahler Bäume vorbei, Wiesen fielen ins smaragdgrüne Meer ab. Allmählich schien Justine sich zu entspannen. Sie warf mir verstohlene Blicke zu, hielt den Atem an, klammerte sich aber endlich nicht mehr ans Steuer wie an einen Rettungsring. Die Straße stieg an, und plötzlich gab es nur noch den Himmel über der Steilküste. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und ließ die Scheibe ein Stück hinunter. Das Meer dehnte sich, so weit das Auge reichte, die Luft war frisch und gischtgeschwängert, der Duft nach Erde und feuchtem Gras drang ins Wageninnere. Ich atmete tief ein. Etwas in mir wurde leichter. Wir fuhren Richtung Cancale, und ich sagte mir, es wäre nicht schlecht, die Gelegenheit zu nutzen und Austern zu kaufen. Es überraschte mich, dass ich an so etwas denken konnte. Ich wertete es als gutes Zeichen, einen Lichtblick. Ich stellte mir sogar vor, ich würde, wenn die Kinder schliefen, die Nase am halboffenen Fenster, das schimmernde Fleisch samt der Perle schlürfen. Das dumpfe Rauschen des Ärmelkanals und sein Salzgeruch würden mich streifen, und ich hätte das Gefühl, in eine Welle zu beißen. Das Auto geriet leicht aus der Spur.
    »Fahren Sie etwas weiter rechts …«
    »Es ist doch niemand da.«
    »Das ist kein Grund.«
    Justine seufzte entnervt und blieb, ohne dass ich sie darum gebeten hatte, am Straßenrand stehen. Ganz nah brandete das Meer, direkt unter der aus Brombeergestrüpp und Ginster auftauchenden Kapelle Notre-Dame-des-Flots schlug es gegen die Felsen. In der Ferne kehrte ein kleines Fischerboot zur Küste zurück, es wurde hin und her geschleudert wie eine Plastiktüte. Sie zog ein Päckchen Lucky hervor und steckte sich eine an.
    »Ich hab Lust auf eine Zigarette.«
    Wortlos schnallte sie sich ab und stieg aus. Ich tat es ihr nach. Der Wind pfiff, er füllte meine Lungen und schmirgelte mir die Haut, ein Schauder lief mir über den Rücken.Der Horizont schien das Ende

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