Gegenwinde
zurück. Kilometerweit reihten sich nur Wiesen und Felder aneinander, aus denen hier und da Gehöfte und Traktoren aufragten. Dann wurden die Reklametafeln häufiger, und die Häuser wuchsen aus dem Boden, eins ans andere geklebt. Ich setzte sie zu Hause ab, vor einem Mietshaus inmitten von fünf anderen, die alle gleich aussahen. Langgestreckte Blocks, sechs Stockwerke hoch, heller Granitputz. Zum Abschied gab sie mir, ich glaube, ganz automatisch, als wären wir alte Freunde, einen Kuss auf die Wange. Ich blieb noch im Auto sitzen, diese Häuser kannte ich besser als jeder andere, ich hatte dort die ersten zehn Jahre meines Lebens verbracht, dann schaffte mein Vater sein Taxi ab, meine Mutter verließ den Schalter der Familienkasse, sie fingen mit der Fahrschule an, und wir zogen in ein eigenes Häuschen, ein paar hundert Meter vom Meer entfernt. Seit damals hatte sich nichts wirklich verändert, der Anstrich war erneuert und Satellitenantennen an den Fassaden angebracht worden, man hatte zwanzig Parkplätze in ein Basketballfeld verwandelt, überall, in allen französischen Stadtrandsiedlungen, waren zur gleichen Zeit die Körbe wie Pilze aus dem Boden geschossen. Wir hatten im vierten Stock gewohnt, und der Balkon war unser Fahrradabstellplatz gewesen, durch die Pappwände konnte man hören, was in der Wohnung nebenan los war, und die Küchengerüche vermischten sich zu einem faden Dunst. Meine Mutter war oft zu Hause, kochte immer Kaffee, servierte Kekse für die Nachbarn, die hereinschauten, warum sie so wenig ausging, war mir ein Rätsel, sie langweilte sich in dieser Wohnung, und das Meer war zum Greifen nah. Im Grunde wusste ich nie, wer sie wirklich war, wer sich hinter ihren geblümten Kleidern und der Fürsorge für uns verbarg. Soviel ich wusste, hatte sie weder eine Leidenschaft noch echte Freunde, ich erlebte sie immer ausgeglichen, nicht traurig und nicht fröhlich, zurückhaltend und farblos. Für die Leute war sie eins mit uns, ging in der Familie auf, ein Teil des Puzzles. Mein Vater dagegen war die klassische, trügerische Mischung aus autoritärem Schweigen, Kälte und unterdrückter Freundlichkeit, ungeschickten Annäherungsversuchen, barscher Männlichkeit und verhinderten Gefühlsregungen, und dabei ist es für mich immer geblieben. Ich denke, so ist es überall, man lebt nebeneinander her, ohne sich je wirklich zu begegnen, ohne sich zu kennen, ohne auseinander schlau zu werden. Das Konkrete kittet uns zusammen, das Alltägliche verbindet uns, der Raum bringt uns einander nahe, und wir empfinden füreinander eine seltsame, bedingungslose Liebe, eine nicht zu rechtfertigende tiefe Zärtlichkeit, die doch nur durch diesen äußeren Rahmen entsteht. Als ich anfing, mich um sie zu kümmern, war es zu spät, das Schweigen war zu hartnäckig, die Scham saß zu tief, die Beziehungen waren zu verkrustet, als dass man sie hinterfragte. Mein Bruder und ich teilten ein Zimmer, an den beigefarbenen Wänden klebten Rennwagen zwischen Postern von U2 Platini The Cure McEnroe, Nirvana Cantona Boris Becker. Er schlief im oberen Bett, oft verbot er mir hereinzukommen, unter dem Vorwand, er mache seine Hausaufgaben. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, hörte ich ihn mit dem Joystick unseres Amstrad-Computers hantieren. Ich ging durchs Wohnzimmer mit den schweren Möbeln, meine Mutter plauderte mit der Frau aus dem dritten Stock, einer Dicken, die sich nie von ihrem Pudel trennte, ihr Parfüm war zu stark und ihre scheußlichen Blusen machten mir Angst, ich könnte nicht sagen, warum. Ich weiß auch nicht mehr, was ich all diese Stunden im Treppenhaus trieb, im Winter saß ich ab fünf Uhr im Dunkeln, ich machte mir nicht mal die Mühe, das Licht anzuschalten, ich horchte auf die Geräusche, die aus den unteren Stockwerken heraufdrangen, auf die alten Leute im Erdgeschoss, die mir klebrige Bonbons schenkten, und auf die Musik der beiden jungen gegenüber, wenn man bei ihnen vorbeiging, sah man nichts, die Fenster waren mit indischen Vorhängen verhüllt, sie hatten lange Haare, und von ihr konnte ich, ob ich wollte oder nicht, unter den orangefarbenen Tuniken die Brüste sehen. Ich mochte ihr geflochtenes Haar und ihren Brillanten auf dem rechten Nasenflügel. Sie ließen mich oft reinkommen, da roch es sonderbar, die afghanische Musik bildete ein ständiges sanftes Hintergrundgeräusch. Sie hatten keinen Fernseher, und ich erinnere mich nicht, was ich bei ihnen machte, ich glaube, ich setzte mich
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