Gegenwinde
mir öffnen, den Finger auf die Lippen gelegt, denn ihre Mutter war da und hielt Mittagsschlaf, sie zog einen Mantel über und wir huschten die Treppe hinunter. Oder sie ließ mich hinein, und wir machten unsere Hausaufgaben zusammen, während im Fernsehen Clips liefen und wir Sandkuchenscheiben aus dem Supermarkt in ein Glas Sprite tauchten, ich saß neben ihr und genoss jede Sekunde, ein wenig zitternd und sehr unbeholfen, furchtbar sentimental und verknallt, mit einem flauen Gefühl im Magen und voller Anbetung. Ein Typ machte mir auf, er kratzte sich am Bauch, ein Backenbart rahmte sein massiges Gesicht ein, zwei rote Steaks anstelle der Wangen. Lockige Haare quollen aus dem Ausschnitt seines schwarzen T-Shirts, darauf erkannte man, schweißbedeckt und jaulend, Johnny Hallyday. Eine Aufschrift in Feuerbuchstaben schrie Quoi ma gueule? Das Ganze gemahnte, obwohl es grotesk war, zur Vorsicht.
»Zu wem wollen Sie?«
»Ich suche Justine. Wegen ihrer Stunde.«
»Was für eine Stunde?«
»Fahrstunde.«
»Ach so. Sie sind der Typ, der ihr das Fahren beibringt.«
»Genau.«
»Und Sie meinen, Sie bringen es ihr bei, indem Sie sie ins Hotel mitnehmen.«
Ich steckte das ein, ich kannte solche Typen, besser man hielt die Klappe. Hinter ihm ahnte man die Wohnung, eine düstere und unordentliche Höhle, aus der verbrauchte bier-, schweiß- und bratfettgeschwängerte Luft drang.
»Na, machen Sie mit ihr, was Sie wollen. Aber passen Sie auf, sie ist eine kleine Schlampe, sie führt alle an der Nase rum, man kann ihr nicht vertrauen.«
Er sah mich mit einem fetten, verständnisinnigen Lächeln an, es hatte keinen Zweck zu diskutieren, ich fragte ihn, ob sie da sei, und er sagte nein, sie sei seit zwei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen, aber es sei ihm schnuppe, sie könne ihren kleinen Arsch hinbewegen, wo es ihr beliebte. Darauf schloss er wortlos die Tür, und ich ging bedrückt zum Auto zurück, die Vorstellung, dass Justine in derselben Wohnung lebte wie dieser Kerl, ließ mich schaudern. Bevor ich losfuhr, blickte ich mich ein letztes Mal um, etwas in mir hoffte, sie aus einer Seitenstraße kommen zu sehen, aber sie kam nicht. Etwas anderes, viel Älteres in mir wartete, dass Caroline mit ihrem schwarzen Haar und ihrem blassen Gesicht auftauchte, in einen Fransenschal gehüllt und die Taschen voller Schnapsfläschchen, die sie im Lebensmittelladen ihres Vaters klaute, wenn sie ihm sonntagnachmittags für einen Fünfzigfrancsschein die Kasse machte. Wir gingen auf Umwegen zur Schule, zogen an unseren Joints, bis wir am Deich waren, letztendlich kamen wir immer zu spät, und die Lehrerin ließ uns nachsitzen oder schickte uns zum Schulrat, einem verdächtigen Typen mit Eidechsengesicht und schmuddeligen Anzügen, der uns komisch anschaute und irgendwann in Handschellen abgeführt wurde. Wir waren durch das Kabel der Ohrhörer verbunden, für jeden einen, heraus kamen süßliche Songs, die sie mochte und die ich nur mit ihr zusammen mochte, unsere Mäntel streiften aneinander, wir tranken den Schnaps und schauten aufs Meer, noch heute weiß ich nicht, warum ich nicht meine Hand auf ihre gelegt habe, wenigstens ein Mal, um zu sehen, was passiert. An manchen Tagen gingen wir in die Altstadt, das Pflaster glänzte im Nieselregen, sie goss ein Fläschchen Rum Calvados oder Whisky in ihren Kaffee. In menschenleeren Morgenstunden vor dem Schloss erzählte sie mir von Jean-Marc Benoît, Christophe oder Yann, das änderte sich dauernd, die ganze Klasse kam an die Reihe, die ganze Klasse außer mir. Oft war sie traurig, und ich wusste nicht, warum, ihre Augen glänzten, sie schwieg und biss sich die Haut von den Fingern, trank einen Schluck, und es ging vorbei. Ich verstand nie, was sie an mir fand und warum sie mich in ihrer Nähe duldete, sie hatte mich gern um sich, sie hatte es gern, wenn ich ihr zuhörte, sie hatte niemanden außer mir, niemanden, dem sie vertrauen konnte, so sagte sie damals. Sie nannte mich ihren kleinen Bruder, und das passte mir, ich wollte nicht mehr, sie nahm mich ins Schlepptau, nur darauf kam es an.
Es war noch nicht lange dunkel, die Garage wurde zur Kühltruhe, aber mir war heiß, überall rann mir der Schweiß herab. Ich schlug schon über eine Stunde auf den Sack ein, meine Arme waren so gut wie taub, ich spürte sie kaum noch, sie waren gleichsam flüssig, und die Stöße drangen bis in die Schultern. Im Zimmer nebenan hatte Manon ihre Puzzles hervorgeholt und versuchte Schneewittchen und
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