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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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seine sieben Zwerge, Marie, Toulouse und Berlioz und nicht weniger als hundertundeinen Dalmatiner zusammenzusetzen. Ich hielt noch zehn Minuten durch, der Sand unter dem Leder hatte sich in Beton verwandelt. Ich zog die Handschuhe aus und ging unter die Dusche. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die Kinder, die Kleine kam toll voran, Walt Disneys komplette Filmographie bedeckte die Teppiche im Wohnzimmer; Clément saß brav an seinem Schreibtisch und blätterte im Großen Buch der Bäume . Er konnte sich stundenlang in dieses Buch vertiefen, sich, den Kontinenten folgend, von einer Gattung zur anderen treiben lassen. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, mein Kinn auf sein Haar, und so gingen wir ein Stück zusammen, Meeresufer folgten auf Gebirge, orangefarbener Sand auf braune Erde, blühende Felder auf dunkle Wälder. Jede Seite war einem Baum gewidmet und versuchte, sein Wesen wiederzugeben, manchmal drang Licht so tief in die Zweige, beleuchtete noch das kleinste Stück Rinde, dass man meinte, das Holz im Gewittersturm knacken, die Blätter im Wind rascheln zu hören. Clément betrachtete all das schweigend, sein ruhiger, regelmäßiger Atem erfüllte den Raum. Ich küsste ihn aufs Haar und löste mich von seiner Wärme, der Schein der Lampe fiel auf sein glattes Gesicht, seine geschlossenen Lippen, seine schmalen Hände mit den Mädchenfingern. Was mochte sich unter seinem Schädel zusammenbrauen? Was mochte sich verbergen hinter dem Schweigen und der Ruhe, dem folgsamen Gleichmut, dem Alles-Hinnehmen, hinter dem er sich verschanzte, seit seine Mutter verschwunden war? Ich erinnerte mich an ein neugieriges, lustiges Kind, das überall herumrannte, die ganze Zeit redete, über Nichtigkeiten staunte, bei jeder Gelegenheit jubelte, wegen eines Marienkäfers oder eines Flugzeugs am Himmel, der Form einer Wolke oder der Dramatik eines Buches, das seine Mutter und mich umschlang und sein Gesicht an die unseren schmiegte, bevor es mit einem großen Seufzer der Zufriedenheit und des ungetrübten Glücks ausstieß: Das Leben ist schön!, ich erinnerte mich an all das, aber es war jetzt so weit weg, dass es war fast unvorstellbar war. Ich überließ Clément seinen Strandkiefern, seinen Ahorn- und Olivenbäumen und ging ins Badezimmer. Vor dem Spiegel hatte ich den Eindruck, noch zwanzig Jahre älter geworden zu sein, ich untersuchte meinen Mund, der Zahnarzt hatte schwer zugelangt, nach drei schlaflosen Nächten hatte ich schließlich nachgegeben, zunächst hatte er zwei vordere Backenzähne gezogen, seiner Ansicht nach gab es keine Alternative. Der freundliche Mann mit dem Körper eines Rugbyspielers ließ seinen PC nie aus den Augen, um sich anhand von Grafiken und Zahlentabellen über Windstärken und Veränderungen am Himmel zu informieren. Er behielt sich das Recht vor, jederzeit Termine abzusagen, an den Strand zu laufen, in seinen Anzug zu schlüpfen, sich auf sein Surfbrett zu stellen und von einem prallen Zehn-Quadratmeter-Segel kilometerweit davontragen zu lassen. Direkt bevor er mir den zweiten Backenzahn zog, die Betäubung begann bereits zu wirken, hatte er mir das allerneuste Brett gezeigt, er wollte es sich demnächst leisten, die Großbaustelle, die sich in meinem Kiefer ankündigte, reichte wahrscheinlich locker, um den Kauf zu finanzieren. Als er es auf dem Bildschirm betrachtete, leuchteten seine Augen, während meine rechte Wange und mein Gaumen taub wurden.
    Ich schaffte es nur mühsam, mein T-Shirt auszuziehen, meine Muskeln glühten, ein Feuer brannte unter meiner Haut. Kaum stand ich mit dem rechten Fuß in der Badewanne, läutete es. Ich zog mich hastig und lief die Treppe hinunter, Manon wirkte beunruhigt, Wer ist das?, fragte sie, ich hatte keine Ahnung, in solchen Situationen sah ich nicht selten Sarahs Gesicht vor mir, nach über einem Jahr ging es mir immer noch so, eine absurde Hoffnung befiel mich, und ich konnte mir die Enttäuschung nicht verkneifen, wenn es natürlich nicht sie, sondern irgendjemand anders war, der Briefträger, die Nachbarin oder mein Bruder. Ich öffnete die Tür, José Combe schützte sich mit einem Lederköfferchen vor dem Regen. Ich brauchte nicht hinauszugehen, um zu wissen, dass winzige Eiskörner niederprasselten, wenn man sie ins Gesicht bekam, stachen sie wie lauter Nadeln. Er stellte sich vor, als hätte ich ihn in den zwei Tagen vergessen können, als wäre nicht der verschwundene Thomas Lacroix in aller Munde.
    »Ja, ja, ich erinnere mich. Kommen

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