Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
Vom Netzwerk:
Rock, der Saum ihres Strumpfs verschwand unter dem braunen Stoff, ich war fast enttäuscht. Sie gab mir meinen Tagesplan.
    »Hast du von dem Jungen gehört, der verschwunden ist?«
    »Mein lieber Mann, Neuigkeiten verbreiten sich hier aber schnell.«
    »Oh ja.«
    »Das hatte ich ganz vergessen.«
    Durchs Fenster sah ich meinen ersten Schüler, einen Kerl, der aus unerfindlichen Gründen die Prüfung noch einmal ablegen musste, er hatte seinen Führerschein schon vor zwanzig Jahren gemacht und fuhr wie du und ich, jedenfalls so gut, dass er sich die verordneten Stunden hätte sparen können. Zumindest theoretisch. Denn in der Praxis hätte man ihn glatt durchfallen lassen. Aus Prinzip, natürlich, aus wirtschaftlichen Erwägungen, aber auch wegen einer ganzen Reihe von Irrtümern und Verstößen gegen undurchsichtige Regeln, deren Bedeutung und Notwendigkeit nur die Prüfer zu kennen schienen. Solchen Schülern konnte ich nichts beibringen, und es wäre mir lieber gewesen, wenn Alex das übernommen hätte. Am Vortag waren wir anderthalb Stunden durch die Felder gefahren, dann hatten wir die Schnellstraße bis zum Staudamm genommen und waren langsam auf dem Teerstreifen mitten durch das türkisblaue Wasser gerollt, links fielen kleine Täler sanft ins Wasser ab, die Blautöne mischten sich widerstandslos mit dem Zartgrün und Goldgelb, alles schien seit Jahrhunderten geregelt, abgezirkelt. Rechts erhob sich der Turm wie ein letztes Signal vor der Bucht, der Horizont war scharf und klar, und die Inseln sahen aus wie die Gipfel einer unterseeischen Bergkette mit komplizierten Windungen. Wir hatten über alles und nichts geredet, und ich hatte nur zwei harmlose Fehler bemängelt: das Herausfahren aus dem Kreisverkehr ohne zu blinken und das Überfahren eines Stoppschilds ohne anzuhalten, als aber kein Auto in Sicht war. Er winkte mir, und ich rief ihm zu, ich käme gleich. Er zündete sich eine Zigarette an, während er wartete. Nadine nahm sich noch eine Tasse Kaffee, es war neun Uhr, und in einer halben Stunde würde der Theorieunterricht beginnen, sie hatte gerade noch Zeit, die erste Kanne Kaffee zu leeren und neuen aufzusetzen.
    »Läuft es gut mit Alex?«
    Erstaunt sah sie mich an, sie kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich solche Fragen gewöhnlich nicht stellte, Alex und ich waren aus dem gleichen Holz geschnitzt, wir flohen Gefühlsabgründe, intime Geständnisse, wir lasen zwischen den Zeilen, äußerten uns in Andeutungen, schwiegen zwischendurch, wichen Fragen aus, verdrängten, begruben sie, als wäre es gefährlich, miteinander zu sprechen, als könnte es uns verletzen und noch verwundbarer machen, wenn wir von unserem innersten Leben sprächen.
    »Warum fragst du?«
    »Nur so. Weil ich wissen will, ob es euch gutgeht, euch beiden.«
    »Sehen wir so aus, als ginge es uns schlecht?«
    »Ich weiß nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, du bekommst nicht genug Luft …«
    »Wie wir alle, Paul, wie wir alle. Nichts weiter. Alex und ich sind seit zwanzig Jahren zusammen. Die Jahre vergehen, und es ist halt einfach so, es zermürbt und gleichzeitig schweißt es zusammen, dagegen kann man nichts machen. Hat Alex etwas gesagt?«
    »Gibt es etwas, was er mir hätte sagen können?«
    »Nein. Nicht dass ich wüsste. Jetzt mach, dass du wegkommst. Dein Kunde wird ungeduldig.«
    Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und wir fuhren nach Osten. Die Sonne war aufgegangen, wir steuerten auf das Rot und die altrosa Fransen zu, das war die einzige Logik unserer Route, sie führte direkt in den entflammten Himmel. Bréhel schimpfte über den Zustand der Welt, man habe die Kontrolle verloren, sagte er, niemand hätte mehr etwas im Griff, es ginge drunter und drüber. Ich war im wesentlichen einverstanden, auch wenn ich nicht so recht sah, was man dagegen tun konnte, auch wenn es mir offensichtlich schien, dass es abwärts ging und es lächerlich war, mit allen vier Füßen zu bremsen, alles drehte durch, niemand konnte mehr etwas machen, die Wirtschaft hatte sich verselbständigt und würde uns schließlich um die Ohren fliegen. Die Kreatur, die sich gegen ihren Schöpfer wendet und ihn vernichtet.
    »Warum hat man Ihnen den Führerschein abgenommen?«
    Bréhels Miene verfinsterte sich, sein Gesicht schien zu schrumpfen, alle Muskeln zogen sich zusammen, und die Augen lagen plötzlich tief in den Höhlen, er versuchte, in sich hineinzukriechen, sich umzustülpen wie einen Handschuh. Er überfuhr zwei Vorfahrtsschilder,

Weitere Kostenlose Bücher