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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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und wir wären beinahe mit einem Lastwagen zusammengestoßen, ich hätte mein Leben gern an mir vorbeiziehen sehen und Sarah darin getroffen, aber meine Stunde war wohl noch nicht gekommen, das Gehupe klang mir noch lange in den Ohren. Er begann zu reden wie ein Wasserfall, es war nachts gewesen, betrunken war er nicht, aber doch ziemlich beschwipst, genug, um sich strafbar zu machen, er hatte den armen Jungen auf seinem Fahrrad umgefahren, es war nach Mitternacht, und das Kind fuhr ohne Licht, was hatte ein Neunjähriger nachts auf einem Fahrrad ohne Licht zu suchen, das fragte er mich, was dachten sich solche Eltern manchmal, guter Gott.
    »Ich hätte ihn fast überrollt, verstehen Sie. Ich hätte ihn töten können. Aber er hat nichts abgekriegt. Kratzer, einen gebrochenen Finger, nichts Schlimmes, es war ein verfluchtes Wunder. Sein Fahrrad war völlig verbogen, wir haben es im Straßengraben liegenlassen und ich habe ihn heimgebracht. Er hatte natürlich einen Schock. Aber er war lieb und nett, er schien mir nicht böse zu sein oder Angst zu haben. Ich kam zu den Eltern, sie haben getobt, der Vater hat mich zur Polizei geschleppt, und ich habe alles mit mir machen lassen, ich habe alles erzählt, ohne zu lügen, und habe brav gepustet. Da war ich geliefert. Ich habe eine Strafanzeige bekommen und man hat mir den Führerschein entzogen. Daraufhin hab ich meinen Job verloren.«
    »Was haben Sie gemacht?«
    »Ich war Vertreter«
    »Für was?«
    »Socken. Sockenvertreter. Ich bin im ganzen Westen unterwegs. Vielmehr, ich war … Warum lachen Sie?«
    »Ich weiß nicht. Socken …«
    »Was ist damit? Tragen Sie keine?«
    Ich setzte ihn bei sich ab, er hatte ein Mobilheim auf der Halbinsel gemietet, in dieser Jahreszeit war der Campingplatz vollkommen ausgestorben und die Düne gehörte dem Strandhafer. Ringsum schmiegten sich das Land und der Sand ans Meer, die Bäume waren vom Wind gekrümmt. Oben auf dem Kliff schaute der Himmel durch die Löcher einer Ruine. Mit dem Hintern auf dem Strand und den Wohnwagen im Rücken konnte man sich am Rand der Welt glauben.
    »Es ist gruselig, aber mir gefällt es hier. Nachts ist es so dunkel und still, dass ich manchmal draußen nachsehe, ob das Meer nicht alles verschlungen hat. Und ich brauche nur durch die Dünen zu gehen, um am Strand zu sein. Außer den Vögeln, die auf der Insel gegenüber hausen, zuzuschauen, hab ich im Moment ja nicht viel zu tun. Da drüben sind Hunderte, unglaublich, sie verbringen ihre Zeit mit Schlafen, den Kopf unterm Flügel versteckt wie die Enten. Am Wochenende gehen die Leute hier spazieren, Kinder spielen Ball und lassen Drachen steigen, ich sehe Menschen, das lenkt mich ab. Es ist ja nur vorübergehend. Meine Frau hat mich rausgeschmissen, und solang ich arbeitslos bin, kann ich mir nichts anderes leisten …«
    Ich sah ihm nach, wie er sich zwischen den Wohnwagen entfernte. Manche hatten Holzterrassen mit einem Zaun darum, andere Gärtchen, in denen Tröge mit fröstelnden Geranien standen. Seiner war ein einfaches Modell, schnörkellos, blauweiß, mit einem kleinen Vordach aus Plexiglas, unter dem ein altes Schaumstoffsofa kalt und feucht wurde. Er war wohl der einzige Mieter, und eine Sekunde lang beneidete ich ihn, ich stellte mir vor, nachts dort in der Einsamkeit zu sein, allein in meinem zerbrechlichen Unterschlupf, meinem provisorischen Haus, den Gezeiten, den Vögeln, dem Regen, der Stille, den Windböen ausgesetzt.
    Vor dem Wohnblock war niemand. Kindergeschrei drang bis zu mir ins Auto, früher, wenn ich krank war, fand ich es immer seltsam, vom Bett aus die Spielkameraden zu hören. Die Grundschule war ganz in der Nähe, direkt daneben befanden sich das Collège und das Lycée Paul-Éluard, graue Gebäude, um einen staubigen Hof mit Handballtoren und schäbigen Basketballkörben gruppiert. Dort hatte ich jede Menge Langeweile und Unlust geschoben. Ich wartete eine Zeitlang, den Blick auf die antennengespickten Balkone gerichtet, auf denen nie benutzte Gartenstühle und -tische herumstanden. Schließlich läutete ich bei ihr. Die Flure stanken nach Suppe und Blumenkohl, gekochtem Gemüse und Industriereiniger. Genau wie früher. Wie eh und je. Ihre Wohnung war die von Caroline, Gebäude B dritter Stock Tür zwölf, es war so seltsam, wieder dort zu sein, diese Adresse war einmal wie eine Zauberformel gewesen, ich hatte sie nachts vor mich hin gesagt, die Hand auf dem Herzen. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, Caroline würde

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