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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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Ich habe ihm gesagt, er soll kommen. Sie haben bei mir übernachtet. Und wir haben uns unterhalten. Wir dachten, wir bringen Ihnen den Jungen zurück, und alles wird gut.«
    »Alles wird gut? Glauben Sie? Wo ist er überhaupt?«
    »Wer?«
    »Er.«
    »Bei mir.«
    Ohne mich aus den Augen zu lassen, stürzte sie zum Telefon, einem alten beigefarbenen Apparat, wie man ihn nirgends mehr sah. Das ganze Mobiliar schien aus einem anderen Jahrhundert zu stammen, und hinter den Glastüren der Bücherschränke standen alte Bände mit verzierten Lederrücken und Goldschnitt. Sie hatte sie wahrscheinlich vorgefunden, als sie einzog, und dann als Dekoration behalten. Die Tapete erstickte das Zimmer. Ich sah, wie sie mit zitternder Hand die Nummer wählte. Ihre fahle Haut ließ das grünliche Geflecht der Adern durchschimmern, und in ihrem wutverzerrten Körper ahnte man die Knochen einer Tänzerin. Sie trat von einem Fuß auf den andern, den Hörer am Ohr, die Augen weit aufgerissen. Am anderen Ende wollte offenbar niemand abheben.
    »Wen rufen Sie an?«
    »Wie ist Ihre Adresse?«
    »Wozu?«
    »Damit sie ihn holen … Verflucht, was macht dieser Idiot, warum geht er nicht ran?«
    Ich sah mich um, das Zimmer war geschrumpft, die Wände kamen zusehends näher und würden uns gleich zermalmen. Aus den dunklen Teppichen erhoben sich Myriaden von Milben, und ich nieste literweise Staub. Sie kam wieder an die Oberfläche und bat mich zu gehen, sie wolle mich nicht mehr sehen.
    »Verschwinden Sie, verflucht!«
    Sie war am Ende ihrer Kraft, ihre Stimme war schwach und ging in den häuslichen Geräuschen unter. Mit metallischem Geklingel lief das Wasser durch die Rohre zu den Heizkörpern. Oben knackte der Fußboden. Draußen blies der Wind und fuhr mit dumpfem Getöse in den Kamin. Ich würde gehen, aber vorher hätte ich ihr noch zwei Worte zu sagen. Sie hätte ihren Sohn wieder, und ich sähe nicht recht, was sie außerdem noch wollte. Der Große hätte Mist gebaut, aber der Kleine brauche seinen Vater, er liebe ihn, das sehe man auf hundert Meter Entfernung, sie seien zusammen glücklich wie Katzen in der Sonne. Wozu ihm den Kopf unter Wasser halten? Sie ließ mich nicht ausreden.
    »Was mischen Sie sich da ein? Was wissen Sie schon darüber? Sie kennen ihn nicht, Sie wissen nicht, was er mir angetan hat, Sie wissen nichts, also verschwinden Sie! Ich will Ihnen nicht mehr zuhören. Verschwinden Sie! Verschwinden Sie!«
    Sie fiel wie eine Irre über mich her, mit all ihrer Kraft, aber das war nicht viel. Sie stemmte sich gegen meine Brust, aber ich wich keinen Millimeter. Da fing sie an, mich zu schlagen. Ich nahm es hin, ohne mit der Wimper zu zucken, irgendwann würde sie ermüden. Ich packte ihre Handgelenke und hielt sie fest, so gut ich konnte. Ihre Vogelknochen zwischen meinen Händen waren so zart, etwas Druck hätte genügt, sie zu zerbrechen. Ich ließ sie los, und sie sank zu Boden wie ein nasser Sack und presste die Stirn auf die Fliesen. Gehen Sie, verflucht, gehen Sie! Ihr Make-up zerlief, während sie immer wieder diese Worte hervorstieß. Bevor ich ging, redete ich ihr noch einmal gut zu, ich versuchte, sanfte und beruhigende Worte zu finden, sie nicht zu verletzen, ich sprach vor allem von dem Kleinen, von seinem seelischen Gleichgewicht und so weiter. Ich weiß nicht, ob meine Worte ihr Gehirn erreichten, ob sie mir zuhörte oder nicht. Thomas kam wieder herunter, und als sie ihn sah, leuchteten ihre Augen plötzlich auf, sie breitete die Arme aus, und der Kleine stürzte sich hinein. Als ich die Tür hinter mir zumachte, erzählte er vom Großen, von der Woche, die sie verbracht hatten, und von dem Glück, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Wogen der Zärtlichkeit stiegen aus meinem Bauch auf und überströmten mich. Ich kehrte zum Auto zurück, die Sonne strahlte, wie eine Wintersonne nur strahlen konnte, die Straßen glänzten, und die kahlen Äste der Bäume bildeten ein Muster schwarzer Linien von ergreifender Schönheit. Ich atmete tief ein, die Luft reinigte meine Lungen, strömte bis in den Bauch, säuberte mein Inneres, ihre eisige Klarheit spülte alles weg. Mit halbgeschlossenen Augen ließ ich das Auto die Straße hinunterrollen, ganz unten war das Meer eine riesige Lache aus grünem Licht, man konnte den Blick nicht abwenden, es flimmerte und funkelte, es war, als würde es den Himmel erleuchten. Ich folgte ihm, so lange ich konnte, ich ließ es nicht aus den Augen beim Fahren, ich hätte gern

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