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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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sie hatten geweint, man sah es an ihren Augen, sie schnieften sich in die Haare, und der Große wiederholte gebetsmühlenartig: Alles wird gut, ich versprech es dir, wir sehen uns bald wieder, wir trennen uns jetzt nicht mehr.
    »Aber wenn du ins Gefängnis kommst?«
    »Nein, nein, ich komm nicht ins Gefängnis. Ein Papa kommt doch nicht ins Gefängnis, nur weil er ein paar schöne Tage mit seinem Sohn verbracht hat …«
    Der Junge hatte darauf ein Gesicht gemacht, dass einem das Herz brach, man spürte seine Verunsicherung, aber der Große verlor nicht die Fassung, er hatte getan, was ich an seiner Stelle auch getan hätte, hatte das Blaue vom Himmel versprochen, Luftschlösser gebaut, strahlende Zukunftsperspektiven entworfen: Es wird gut, du wirst sehen, ich rede mit deiner Mutter und dann finde ich hier irgendwo einen Job und miete eine kleine Wohnung, und dann können wir uns immer sehen. Ich hatte ein oder zwei Bier geleert, bis sie fertig waren.
    Wir stiegen aus, das Haus war hinter den nackten Bäumen nur halb versteckt. Es war ein Holzpavillon, von dem die weiße Farbe abblätterte. In dem großen Garten standen eine Kiefer, zwei Mimosen und ein Kirschbaum. Dazwischen wuchs das Unkraut, wie es ihm gefiel, kletterte Böschungen hinauf, überwucherte kleine Senken, wo ein Kinderfahrrad und Plastikboulekugeln herumlagen. Einen Augenblick dachte ich an Sarah, sie hätte liebend gern da gewohnt, es war nichts Großartiges, aber das Ganze strahlte einen nachlässigen Charme, etwas Heiteres, Ferienatmosphäre aus. Ich überquerte die menschenleere Straße, der Kleine folgte mir widerstrebend, er fürchtete sich vor dem, was folgen würde, und ich sah keine Möglichkeit, ihn zu beruhigen, ohne zu lügen. Zwischen den Zweigen konnte man die Küche und das Wohnzimmer sehen, ein Schatten bewegte sich an den Fenstern vorüber.
    »Das ist Mama«, sagte Thomas. »Sie ist da.«
    Er atmete tief durch, um sich Mut zu machen. Ich bewunderte diesen Jungen. Er nahm sich zusammen, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ich musste an Clément denken.
    »Gut. Gehen wir hinein«, sagte ich. »Vergiss nicht, was du sagen wolltest, hm? Du sagst nur Nettes über deinen Vater, dass du froh warst, ihn zu sehen, dass du supertolle Ferien mit ihm verbracht hast und dass du das so bald wie möglich wieder tun willst, weil er dir so fehlt und so weiter. Okay?«
    »Das stimmt ja auch.«
    Das Tor war offen, ich stieg mit Thomas an der Hand die sechs Stufen der Freitreppe hinauf, an der Hauswand trieb eine Kamelie, bestimmt zwei Meter fünfzig hoch und eineinhalb Meter breit, dicke runde Knospen, und in einem Monat würden sie aufplatzen, faustgroße rote Blüten mitten im Winter, hier begann der Frühling beizeiten, schon im Januar schmückten sich die Mimosen mit gelben Bällchen, und die Forsythien folgten nur ein paar Tage später. Ich legte den Finger auf die Klingel, mit angehaltenem Atem sahen wir uns an. Die Tür öffnete sich, vor uns stand eine Frau mit zerzausten kurzen Haaren, es war bald Mittag und sie offenbar eben erst aufgewacht, ihr Gesicht trug schwarze Spuren, und ihr Morgenrock fusselte. Ihr Blick glitt über mich hinweg, ohne hängenzubleiben, ich hielt ihren Sohn an der Hand, und das war alles, was sie sah, ein seltsamer Schrei entfuhr ihr, und ein unbeschreiblicher Ausdruck trat auf ihr Gesicht, die widersprüchlichsten Gefühle mischten sich darin. Der Kleine stürzte sich in ihre Arme, und sie drückte ihn, bis er fast erstickte, sie weinte und küsste ihn überallhin, auf die Stirn die Hände das Haar den Mund das Gesicht. Und berührte und betastete ihn, als wollte sie sich versichern, dass es wirklich er war, dass es nicht ein Traum war, dass man ihr wirklich ihren Sohn zurückgebracht hatte. Ich stand daneben, ohne ein Wort zu sagen, mit hängenden Armen, unnütz und deplaziert. Mein Thomas mein Thomas mein Thomas, sagte sie immer wieder und zog ihn an ihre Brust und bedeckte ihn mit fiebrigen Küssen. Schließlich gingen wir hinein und der Junge ging rauf in sein Zimmer. Das Haus roch nach Zimt und Orangen, die Möbel im Wohnzimmer waren irgendwie alle zu groß, ich bekam keine Luft, ich hätte gern die Vorhänge, die Fenster geöffnet, das Licht hereingelassen.
    »Wer sind Sie?«, fragte sie.
    »Niemand Besonderes«, erwiderte ich. »Ihr Ex-Mann hat meinen Umzug gemacht. Ich kenne ihn nicht. Gestern Abend hat er mich angerufen, ich weiß nicht, warum, er war in Panik, er wusste nicht mehr, was er tun sollte.

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