Gegenwinde
Sekunden. Ich setzte mich ihm gegenüber, sein Schreibtisch war übersät mit Papieren, Plastikbechern und vollen Aschenbechern. Plakate an den Wänden riefen die Jugend auf, sich zu engagieren. Mindestens fünf Minuten sagte er gar nichts, schaute mich aus seinen tiefliegenden kleinen Augen an, biss sich auf die Lippen oder die Wangen, ließ seine Zunge schnalzen oder schnaufte wie ein Stier, ich war wohl kein einfacher Fall.
»Haben Sie etwas von dem kleinen Thomas gehört?«, versuchte ich es nach einer Weile.
Ich hätte besser geschwiegen. Er geriet außer sich. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und sprang auf. Ich zuckte unwillkürlich zusammen.
»O verdammt!«, schrie er. »Sie fangen an, mir auf den Senkel zu gehen. Spielen Sie nicht den Deppen, dann wird alles gut. Aber wenn Sie mich nerven, dann …«
»Dann was?«
Er setzte sich wieder hin, ein spöttisches kleines Lächeln auf den Lippen, und begann, in seinen Unterlagen zu kramen, er suchte wohl meine Akte, und das war keine Bagatelle, aber ich war zuversichtlich, er würde sie finden. Ich sah mich wieder vor mir zu der Zeit, als ich in einem Büro arbeitete, alle bedauerten mich, weil ich so verloren wirkte hinter dem Berg von Papierkram Büchern japanischen Teetassen und Mandarinenschalen, manchmal versuchten sie, mich in die Falle zu locken, verlangten augenblicklich irgendeinen Vordruck, aber sie hatten sich zu früh gefreut, mit sicherer Hand griff ich in den Dschungel meiner Schubladen und zog das verlangte Auftrags-, Rechnungs- oder Bestellformular hervor. Danach tat ich so, als würde ich mich wieder in meinen Bericht vertiefen, und schrieb an meinem nächsten Buch. Schließlich wurde ich entlassen, das Arbeitslosengeld half mir, die Zeit zu überbrücken, bis der Film an meine Tür klopfte, und von da an lief es recht und schlecht, es passte mir, von morgens bis abends zu Hause zu sein, mein Arbeitszimmer schaute auf die Birke, ich trank literweise grünen Tee, brachte die Kinder zur Schule und ging Zeitungen kaufen, ich marschierte drauflos, nur das Meer fehlte, wir träumten von den Spaziergängen auf den Zöllnerpfaden, noch am Tag, bevor sie verschwand, sprach Sarah davon, sie hatte gerade ihre Versetzung hierher beantragt, ein paar Tage später sollten wir die Antwort bekommen.
Er fand schließlich, was er suchte, eine Sammlung loser Blätter in einer blauen Mappe, auf der mit rotem Filzstift mein Name geschrieben stand. Er tat so, als läse er das Ganze noch einmal, bevor er eine knappe Zusammenfassung gab, aus der hervorging, dass ich in drei Vermisstenfälle verwickelt wäre – den meiner Frau, deren Akte man ihm übermittelt hatte, den von Justine, denn sie sei zuletzt mit mir gesehen worden, und schließlich den des kleinen Thomas Lacroix, dessen Vater noch gestern mit mir telefoniert hatte –, und daher gut daran täte, auf der Hut zu sein.
»Aber nennen Sie das, wie Sie wollen, Anderen, Intuition oder sonst wie, ich sehe darin nichts anderes als eine Reihe blöder Zufälle. Geben Sie zu, Sie haben Schwein, dass Sie mit mir zu tun haben. Andere hätten Ihnen schon die Handschellen angelegt, glauben Sie nicht? Gut, fangen wir mit dem Anfang an, was hat Ihnen der Vater des kleinen Thomas gesagt, was wollte er? Ich dachte, Sie kennen ihn nicht?«
Combe musterte mich zufrieden, ich hatte das Gefühl, ein Netz fiele über mich und jemand zöge in aller Ruhe die Maschen zu. In meinem Hirn tobte ein Mückenschwarm. Ich brauchte ein Weilchen, um mich wieder zu fangen, es roch nach Schweiß in dem Büro und mir war heiß, ich hätte gewünscht, jemand machte das Fenster auf. Ich leugnete nichts, rückte die Dinge nur ein wenig zurecht, der Vater des kleinen Thomas hätte mich tatsächlich angerufen, ich wäre selbst am meisten überrascht gewesen, er hätte nicht mehr ein noch aus gewusst und mich um Rat gefragt, ich hätte ihm zugeredet, das Kind seiner Mutter zu übergeben und sich der Polizei zu stellen. Combe gratulierte mir zu meiner Klugheit. Mit einer Hand kramte er in seinem Schreibtisch und holte ein Päckchen Davidoff-Zigarillos hervor. Bei jedem Zug kniff er seine Augen zusammen, sie verschwanden fast in der Masse des Gesichts. Aus seinem Mund mit den erstaunlich roten Lippen entwichen kleine Schwaden gräulichen Rauchs. Ich wäre beinahe aufgestanden, aber es war noch nicht ganz zu Ende: Er wollte mich zum Fall Justine hören. Ich hatte nicht viel dazu zu sagen, jedenfalls nichts, was für ihn von Nutzen sein
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