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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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stieg blitzartig, und es flimmerte mir vor den Augen.
    »Gut. Denken Sie nur dran, mir in den nächsten Tagen mal eine Fotokopie vorbeizubringen. Jedenfalls stelle ich mir vor, dass Ihr Bruder, der ja ein seriöser Bursche ist, nicht so dumm sein würde, sich auf so etwas einzulassen, der Laden würde unweigerlich dichtgemacht, das wissen Sie so gut wie ich …«
    Er stand auf und griff nach seinem Mantel, seine Bewegungen waren langsam und behäbig, plötzlich kam er mir doppelt so schwer vor, er ging schlurfend, ich hatte den Eindruck, dass er die Hälfte des Wohnzimmers füllte. Ich stand auf, um ihn hinauszubegleiten. Unter meinen Füßen neigte sich der Boden, ich fühlte jeden einzelnen Nerv, seinen Abnutzungsgrad und seine Lebenserwartung: Es war der Anfang vom Ende, oder es sah danach aus. Ich öffnete die Tür, draußen roch es nach Frühling, die Luft tat wahnsinnig gut, kalt, aber nicht eisig, frisch, aber nicht schneidend, es war, als tauchte man in ein zwanzig Grad warmes Meer ein, eine angenehme, willkommene Kühle. Wir blieben einen Augenblick auf dem Kies stehen und betrachteten den Mond und die Pflanzen in den Beeten. Das meiste war Zeug aus der Gegend, Schmetterlingssträucher Ginster Goldlack, ich hatte große Lust, ein oder zwei Fliederbüsche dazuzupflanzen. Ich zog zwei Zigarren aus der Tasche, wir schauten in den Himmel und rauchten schweigend. Der Nordwind legte sich, bis kaum mehr ein Luftzug zu spüren war, der aber genügte, um das Meeresrauschen bis zu uns zu tragen, der Geruch nach Algen und Austern mischte sich mit Lakritz und Tabak. Combe drückte seinen Stummel aus und gab mir seine dicke weiche Hand, seine Haut war zart und eiskalt.
    »Na dann, gute Nacht …«
    Er war im Begriff abzufahren, besann sich aber eines anderen, ich dachte schon, ich würde ihn nie mehr loswerden.
    »Haben Sie Lust? Weihnachtsgala … Meine Tochter boxt zu Beginn …«
    Er hatte eine große blaue Eintrittskarte aus der Tasche gezogen und reichte sie mir.
    »Hm, ich weiß nicht. Vielleicht kennen Sie andere Leute, denen das Spaß machen würde. Ihre Kinder, Ihre Frau?«
    Er schnalzte mit der Zunge und drückte mir die Karte in die rechte Hand, niemand um ihn herum interessierte sich für Boxen, und er hätte kein weiteres Kind und auch keine Frau, er hätte keine Lust, allein hinzugehen, wenn ich also an dem Abend nichts zu tun hätte, würde er mich gern mitnehmen.
    »Es ist in zehn Tagen. Wenn wir uns inzwischen nicht sehen, hole ich Sie gegen 19 Uhr ab … Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Gestern habe ich eins Ihrer Bücher gelesen. Schauen Sie nicht so erstaunt. Ehrlich, ich fand das nicht schlecht. Ein bisschen weinerlich, aber nicht schlecht.«
    Darauf schlug er die Tür zu, und ich war wieder allein mit meiner Cohiba. Es war ruhig und sehr mild, der Satin der Nacht hüllte alles ein, ich ging ein paar Schritte in die Sackgasse, im ersten Stock des Hauses gegenüber las eine Frau und streichelte dabei ihre Katze, im Fenster des nächsten spiegelte sich ein riesiger Bildschirm, vor grünem Hintergrund rannten Typen im Trikot hinter einem Ball her, PSG war schon drei Tore im Rückstand, noch eins weiter wohnten alte Leute, die ab fünf Uhr nachmittags ihre Fensterläden schlossen, das letzte Haus schaute aufs Meer, und die Tamarisken waren vom Wind gebeugt, sie sahen aus, als wären sie mitten in der Bewegung erstarrt, die Zweige berührten fast den Boden. Ich setzte mich auf die Bank. Von hier aus gesehen, hätte das Meer genauso gut ein See sein können. Es plätscherte leise auf den festen, stellenweise spiegelglatten, dann wieder dunklen, seidigen Sand. Am Himmel blinkten die Sterne, ich holte mein Telefon hervor und tippte Tristans Nummer. Monsieur Poque lief durch den Schnee. Ich hörte ihm lange zu, er erzählte von verlassenen Tempeln, durch die der Wind pfiff, vom Armenfriedhof, auf dem sich tausend steinerne Buddhas drängten, vom See des Daikaku-ji und von den gebeugten Bauern in den Reisfeldern, von den Holzpavillons und dem Bambuswald von Sagano, von der Brücke zum Mond in Arashiyama und den Lichtern von Osaka. Von einem Fotografen, der nichts als unendlich weite Schneeflächen fotografierte, auf denen sich nur die schwarzen Linien einer Hecke, die Konturen einer Straße, das schwarze V der Raben abzeichneten. Von den Frauen, die sich auf der Suche nach Kiefernnadeln über das Moos beugten, von den jungen Männern, die mit ihren Rechen die Linienmuster der Steingärten zogen. Von

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