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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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warteten zwei Tassen und eine silberne Teekanne auf Élise und mich, ich klopfte ans Fenster, drei Katzen rieben sich an der Scheibe und machten mir schöne Augen, aber das war alles. Ich ging ums Haus herum, zog mich am Küchenfenster hoch, und da lag sie auf dem Boden. Die Kletterrosen zerkratzen mir die Arme, ich verstauchte mir den Knöchel, Blut lief über meine rechte Wange. Ich hob einen dicken Stein auf, die Scheibe zerbrach mit einem kristallenen Klirren, Splitter übersäten das Fensterbrett, ich hatte die Handflächen voll davon. Élise deutete ein Lächeln an, sie konnte sich nicht bewegen und war sichtlich am Ende ihrer Kraft.
    »Ach, da sind Sie ja endlich …«, murmelte sie, bevor sie die Augen schloss.
    Sie nahm meine Hand und schlief sofort ein, das Reden hatte sie vollends erschöpft. Ich rief den Rettungsdienst an, sie kamen mit lautem Sirenengeheul, vier große Kerle in Uniform, ich konnte den Wagen auf dem Strand stehen sehen, in weniger als einer Stunde würden die ersten Wellen an seinen Rädern lecken. Beladen mit medizinischem Gerät eilten sie die Treppen hinauf. Ich ließ sie zum Wintergarten herein, sie bestürmten mich mit Fragen, ich hatte keine befriedigende Antwort zu bieten, man trat auf Glasscherben, vor dem Büfett lag der Stein: Warum ich mich in diesem Haus befand und wie ich hereingekommen war, das interessierte sie sichtlich mehr als Élises Gesundheitszustand.
    »Wie lang liegt sie schon auf dem Boden?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich fand sie so vor, als ich kam. Wir waren für die Stunde verabredet, und da sie nicht reagierte …«
    »Was für eine Stunde?«
    »Ich bin Fahrlehrer.«
    »Gut, wir nehmen sie mit.«
    »Soll ich Ihnen folgen?«
    »Wie Sie wollen. Wenn Sie eine Möglichkeit haben, ihren Mann, ihre Familie zu benachrichtigen.«
    »Ihr Mann ist tot.«
    »Dann ihre Kinder.«
    »Sie wohnen nicht hier, aber ich will mal sehen.«
    Sie legten Élise auf eine Trage, sie gingen mit ihr um wie mit einer Puppe. Eine Sauerstoffmaske bedeckte ihr Gesicht. Ich durchsuchte den Mahagonisekretär, das Adressbuch verbarg sich zwischen einem Bündel vergilbter Briefumschläge und einem Stapel Postkarten. Ich schlug es auf, die meisten Namen waren durchgestrichen.
    »Folgen Sie uns?«
    Ich steckte das Adressbuch in meine Tasche, und wir gingen. Das Haus offen und in diesem Zustand ungewohnter Unordnung zu lassen, das behagte mir nicht besonders, aber es war keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich hätte gern die Spuren beseitigt, den Film zurückgespult und mit Élise am Wohnzimmertisch russischen Tee getrunken, während sie von Aragon erzählte, ihr Mann hatte ihn verehrt, er kannte Hunderte seiner Gedichte, deklamierte sie jederzeit und überall in voller Lautstärke. Er sagte immer, sie sei »seine Elsa«, und sie musste lächeln, ihre Augen leuchteten immer noch bei dieser Erinnerung.
    Von der anderen Seite der Hecke aus beobachtete uns der Nachbar. Ich forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu verziehen, es kotzte mich an, dass er Élise in diesem Zustand sehen konnte, mit schlaffen Gliedern auf der Trage liegend, an einer Flasche hängend, mit aufgelöstem Haar und hochgerutschtem Kleid. Ich folgte dem davonrasenden Krankenwagen mit dem Telefon am Ohr, am anderen Ende der Leitung meldete sich keines der Kinder, ich hinterließ meinen Namen und meine Nummer, ich sagte, es ginge um ihre Mutter, man hätte sie wegen eines Unwohlseins ins Krankenhaus gebracht, und ich legte auf. In der Notaufnahme ging alles sehr schnell, eine Menge Leute kümmerten sich um Élise, das wäre ihr unangenehm gewesen, dachte ich, sie war so sehr darauf bedacht, niemandem zur Last zu fallen, niemandem Sorgen zu machen, sie war leicht wie eine Feder, nur präsent, wenn man sie darum bat, und sobald man sie nicht mehr brauchte, zog sie sich zurück. So zumindest hatte ich sie erlebt. Ich wartete gut zwei Stunden in einem Flur, Männer in weißen Kitteln gingen hin und her, ohne mich zur Kenntnis zu nehmen. Um mich herum warteten noch etwa zehn Personen, ein Baby schrie in den Armen seiner Mutter und ein Junge hielt sich weinend den Arm. Ich holte mein Telefon und Élises schwarzes Adressbuch hervor. Ich wählte jede Nummer sicher ein Dutzend Mal, die Nase ans Fenster gedrückt, von dem aus nichts zu sehen war außer einer unkrautbewachsenen Fläche und ein paar parkenden Autos. Ab und zu erschien ein Krankenwagen und spuckte eine Trage aus. Möwen kreisten am Himmel wie Geier. Während ich das

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