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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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Élise kam nicht. Sie würde schlechter Laune sein. Sie fluchte schon seit fünf Tagen, weil sie von Alex’ Wagen auf meinen umsteigen musste.
    »Wie soll ich denn das schaffen?«, schimpfte sie. »Ich habe das Gefühl, noch einmal bei null anfangen zu müssen.«
    Ich wählte ihre Nummer, ich wartete eine Weile, sie nahm nicht ab, aber das bedeutete nichts. Ich hatte das schon mehrmals beobachtet, wenn ich zu ihr kam: Élise ließ ihr Telefon einfach läuten.
    »Gehen Sie nicht dran?«, hatte ich sie gefragt.
    »Sie sehen doch, dass ich beschäftigt bin. Wir trinken Kaffee zusammen. Ich kann nicht zwei Dinge auf einmal tun.«
    Ich verbrachte gern Zeit bei ihr, sie ging von einem Zimmer ins andere, ihre rassigen Hände zogen mit ausholenden Gesten ihren Schal zurecht, strichen über das Holz der Möbel, glätteten das Fell einer Katze, griffen in die Zweige eines Olivenbaums. Sie kochte mir Tee, und wir unterhielten uns stundenlang. Stets zelebrierte sie diesen Ton, diese Eleganz, diese Höflichkeit und diese Manieren aus einer anderen Zeit. In ihrem großen baumumstandenen Haus voller Bilder, Teekannen, Bücher und Grünpflanzen fühlte ich mich wie ein Elefant im Porzellanladen. Mein Körper, meine Kleider, meine Sprache, alles kam mir grob vor, Martin Eden bei den Morses. Hin und wieder legte sie eine Schallplatte auf den alten Plattenteller, die Nadel kratzte ein wenig, sie mochte nur Schubert, und das passte zu ihr, diese Zurückhaltung, diese Würde, wenn ich Brahms oder Mahler erwähnte, zuckte sie mit den Schultern, sie sind mir zu überschwenglich, sagte sie und stellte die Winterreise lauter, an einem Nachmittag hörten wir den ganzen Zyklus, schweigend, Seite an Seite, den Blick auf die leuchtende Bucht gerichtet, am Ende des Gartens war der Sand rosa und die tiefe Ebbe der Tagundnachtgleiche legte ungeahnte Landschaften frei.
    Das Tor war geschlossen, ich läutete vergeblich, die Vorhänge an den Fenstern bewegten sich nicht, zitterten kaum. Vor dem Nebenhaus schaute der Nachbar in seinen Briefkasten, er zerrte einen Wust von Werbeprospekten und Spielzeugkatalogen heraus, Weihnachten nahte, und ich würde mich darauf einstellen müssen, mit den Kindern hatte ich sie schon durchgeblättert, es war nicht viel dabei herausgekommen, kurz gesagt, sie wollten alles, Manon schrie bei jeder Seite oder bei fast jeder auf, sie glaubte nicht mehr an den Weihnachtsmann, aber dafür konnte sie sich nur schwer mit dem Gedanken abfinden, dass mein Bankkonto ihren Wünschen eine Grenze setzte.
    »Ist Élise ausgegangen?«, fragte ich ihn.
    Er wandte sich zu mir um und warf mir einen misstrauischen Blick zu, er gehörte offensichtlich zu der großen Gruppe von Leuten, die sich davor fürchten, dass man sie anspricht, und die bereit wären, jemanden mit Tränengas zu besprühen, nur weil er es wagt, sie nach dem Weg zu fragen.
    »Woher soll ich das wissen?«, knurrte er, bevor er mir den Rücken zudrehte und die Gartentür hinter sich schloss.
    Ich sah ihn die Außentreppe hinaufsteigen, Stufe um Stufe, bei jedem Schritt hielt er an, der Pullover schlotterte um ihn, und in seine braune Cordsamthose hätten sechs wie er hineingepasst. Wahrscheinlich war er so alt wie seine Nachbarin, sah aber mindestens zehn Jahre älter aus, etwas in seiner Haltung und die gebeugten Schultern zeugten von Vergänglichkeit und bevorstehendem Tod. Bevor er das Haus betrat, schaute er noch einmal auf die Straße und runzelte die Stirn, als er mich sah. Ich ging Richtung Meer. Strandsegler flitzten über den feuchten Sand, vollführten 360°-Drehungen, surrten aneinander vorbei, auf dem Deich lauerten alte Damen im Pelz auf den Zusammenstoß. Ihre närrischen Dackel schnüffelten am Boden und hoben an jeder Laterne das Bein. Ich machte einen großen Bogen um sie. Zu meiner Rechten hob ein Typ vom Boden ab, an einem roten Segel hängend, sprang er zehn Meter weit und schrie vor Freude. Die Treppe kletterte in die von Seepocken weißen Felsen, in den Mulden hatte das Meer Pfützen hinterlassen, in denen winzige Krabben zappelten, sobald ich näher kam, versteckten sie sich unter den Braunalgen. Die Napfschnecken saßen sogar auf den Stufen, die glatt und geädert waren wie die Haut eines Nilpferds. Das Gartentor hing schief in den Angeln, ich stieß es auf und bahnte mir einen Weg durch die Steine, der Weg war unter Gras und Unkraut verschwunden, oben lagen die Stühle kreuz und quer auf dem Boden, umgeblasen vom Wind. Auf dem Wohnzimmertisch

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