Gegenwinde
Telefon ans Ohr presste, blickte ich auf welke, zu blasse Haut, auf verstörte Gesichter mit geöffneten Mündern. Niemand meldete sich, die Ansagen waren unpersönlich, professionell und kalt. Ich hinterließ immer dringlichere, immer unfreundlichere Nachrichten, ich hatte die Schnauze voll. Schließlich erreichte ich eine ihrer Töchter, sie habe meine Anrufe erhalten, aber sie sei bei der Arbeit, sie könne im Moment nicht mit mir sprechen, sie war vollkommen in Panik, man hätte meinen können, sie riefe mich heimlich an.
»Ist es schlimm?«
»Na ja, sagen wir, es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Sie so schnell wie möglich kämen. Es scheint ihr nicht gutzugehen.«
Ich hörte sie tief Luft holen, ich war darauf gefasst, dass sie jeden Augenblick in Tränen ausbrach.
»Mein Gott … mein Gott … Hören Sie, ich rufe Sie heute Abend noch einmal an, ich werde sehen, was ich tun kann, wie ich es organisieren kann, es ist dermaßen kompliziert zurzeit, wir sind voll im Endspurt, und alle rechnen mit mir, ich kann nicht irgendwann einfach verschwinden …«
Offenbar war sie wirklich mit den Nerven am Ende. Ich fragte sie, ob sie nicht ihren Bruder und ihre Schwester fragen könnte, aber das ging wohl auch nicht problemlos: Pierrick lebte im Ausland, und Hélène verbrachte ihren Urlaub in Asien. Sie legte in dem Moment auf, als der Arzt sich vor mir aufbaute. Er war ungefähr in meinem Alter, aber viel besser erhalten, seine Schläfen waren noch kaum ergraut, und ansonsten strahlte er Gesundheit und Selbstvertrauen aus. Die Mädchen mussten ihm zu Füßen liegen. Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte nicht umhin, ihn mir auf Skiern vorzustellen, perfekt gebräunt, lächelnd, im blendenden Weiß der schwarzen Pisten.
»Guten Tag«, sprach er mich an, «sind Sie der Sohn von Madame Élise Grindel?«
»Nein, aber ich habe sie gefunden.«
»Würden Sie mir bitte folgen?«
Ich irrte mit ihm durch ein Labyrinth von graublau gestrichenen Fluren. An den Decken knisterten kalte Neonröhren. Durch halboffene Türen sah man Menschen im Schlafanzug in Betten liegen, manchmal döste ein Angehöriger auf einem Stuhl, und überall liefen Nachmittagsserien in den Fernsehern. Ich betrat ein spärlich eingerichtetes Büro, ein Typ mit Brille kratzte sich den gepflegten Bart, er schilderte mir kurz die Lage, eigentlich hätte er keine Ahnung, um was es sich handelte, Élise habe das Bewusstsein wiedererlangt, aber sie sei sehr schwach und scheine unter Gedächtnisstörungen zu leiden, ihre Wahrnehmung sei ernsthaft beeinträchtigt, man würde sie zur Beobachtung dabehalten und eine ganze Reihe von Untersuchungen durchführen, aber ich solle mir keine Sorgen machen. Er drückte mir die Hand, und ich war allein in dem nach Putzmittel stinkenden Flur. Über eine Viertelstunde brauchte ich, um den Ausgang zu finden, draußen regnete es, die Tropfen schmeckten salzig, als wäre das vom Himmel fallende Wasser aus dem Meer geschöpft worden.
Auf dem Dach der Schule schrien zwei Ringelgänse. Was sie da suchten, war mir ein Rätsel. Im Hintergrund erholte sich der Himmel, über eine Stunde lang hatte er gewütet, die ganze Stadt hatte sich unter dem Hagel geduckt. Vor dem Tor warteten schon einige Eltern, sie schienen sich alle gut zu kennen und abgesprochen zu haben. Niemand geruhte, mir guten Tag zu sagen oder mich mehr als nur flüchtig anzusehen. Aber ich war aus dem Alter heraus, wo mich so etwas aufregte. Ich hielt mich abseits und spitzte die Ohren. Im wesentlichen ging es um den kleinen Thomas Lacroix, der Tod des Großen schien niemanden besonders zu erschüttern. Mir wurde kotzübel. Ich entfernte mich ein paar Meter. Die Ringelgänse waren vom Dach verschwunden, sie mussten sich zu ihren Kollegen auf dem steinigen Strand von Minihic gesellt haben, am Tag zuvor hatten sie sich dort zu Dutzenden niedergelassen, in zwei Wochen würden sie weiterziehen. Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken und spiegelte sich einen Moment lang in den Fensterscheiben. Ein schwarzer Schatten durchquerte den Hof, die Direktorin kam selbst, um uns hereinzulassen, das passierte nicht so oft, ich witterte sofort Ungemach. Sie lächelte huldvoll, und, das musste man gesehen haben, alle, die sie da waren, entboten ihr einen honigsüßen Gruß, man hätte meinen können, er gelte dem Papst persönlich. Als sie auf mich zukam und mich um eine kurze Unterredung bat, war ich nicht einmal überrascht, weder zuckte ich mit der Wimper noch hob ich
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