Geh aus, mein Herz
ihn nicht bemerkt, wie er im Schutz vor dem Regen im Wartehäuschen an der Straßenbahnhaltestelle hinter ihr gestanden hatte. Er hatte sich ein wenig über ihr Kind gebeugt, ernst in diese großen, weit aufgerissenen Augen geschaut und das Kleine hatte angefangen zu weinen. Die Frau hatte sich zu dem Kind hinuntergeneigt und irgendwelchen Nonsens geplappert. Nicht einmal da hatte sie von ihm Notiz genommen. Das bewies, dass sie eine von denen war; so hatten sie ihn behandelt oder genau entgegengesetzt, und er war wütend geworden und weggegangen, ohne sich umzudrehen. Er wollte ihr grinsendes Gesicht nicht sehen, wenn er sich umdrehen würde. Er wusste, dass es so war.
Und dann, plötzlich: Die Zärtlichkeit, die sich wie eine weiche Ruhe in seinem Körper ausbreitete, als er in dieser Dämmerung, die wie Schiefersplitter über die Stadt fiel, wieder bei der Kirche an der Mauer stand und zusah, wie diese beiden Männer sich für die Nacht einrichteten. Hatte er sie nicht schon früher einmal gesehen? Den Großen. War es nicht hier gewesen? Er erkannte ihn wieder, aber vielleicht auch nicht, das war nicht wichtig.
Oh, er wollte einen Einsatz leisten, in seinem Kopf brannte es vor Eifer, wieder einen Einsatz zu leisten; aber gestern Nacht hatte er Angst gehabt, hatte die Decken nicht mitgenommen. Er wollte es nicht tun, oh, er wollte es tun, das eine und das andere, das eine zuerst, dann das andere.
Er blieb stehen, bis die Gefühle von Zärtlichkeit und Schrecken wichen. Dann ging er an der Kirchenmauer entlang in die Richtung der zwei Männer und folgte ihnen in zehn Meter Abstand zur Storgatan.
Einer der beiden Obdachlosen wartete, bis die Schritte leiser klangen, und als er meinte, der Abstand sei groß genug, hob Janne-Janne ein wenig den Kopf und sah dem Mann nach, der schwach von den Verkehrslichtern der Allén angestrahlt wurde.
18
Rickard Melinder war verschwiegen gewesen, und Sten Ard fragte sich, warum. Melinder war schon lange so. Das Schweigen. Beim Militär, wo die Hochnäsigen ihre Hochnäsigkeit entwickeln und die Stillen sich immer mehr verschließen, war Melinder eine Muschel gewesen. So viel wussten sie. Melinder: in seinen späten Kinderjahren ein Plagegeist. Danach: Schweigen. Was war geschehen?
Rickard Melinder war bisexuell veranlagt gewesen, das hatten sie beim ersten Gespräch mit der Ehefrau herausgehört. Berit. Sten Ard hatte sie wieder aufgesucht. Das kleine Haus auf der Lyckogatan, dahinter der Västberget, der sich wie eine Mauer darüber neigte, Melinders wiederholtes Verschwinden, zwei Tage, drei Tage. Nicht häufig, aber oft genug, um zu merken, dass etwas nicht stimmte.
Er hatte Berit Melinder nicht direkt fragen müssen und darüber war er froh. Ein Mann hatte sich gemeldet und war heraufgekommen, Henrik Bjurlinge; am Vormittag hatten sie sich getroffen und jetzt saß Ard in seinem Büro mit dem Tonbandgerät auf dem Tisch. Er ließ die Vorstellung schnell durchlaufen, um sich nicht das entsetzliche Kratzen und Schleifen von Mikrofon und Apparat quer über den Tisch anhören zu müssen. Er drückte auf Play.
SA: Sie haben angegeben, dass Sie bei der Telefongesellschaft angestellt sind.
HB: Ja, das stimmt.
SA: Rickard Melinder war Ihr Kollege.
HB: Wenn man das so nennen kann. Wir haben uns nicht oft gesehen, ich war draußen beschäftigt und er arbeitete ja im Innendienst.
SA: Aber Sie haben sich getroffen.
HB: Ja.
SA: Erzählen Sie mehr davon.
HB: Was soll ich sagen? Eines Tages bin ich mit Papieren ins Büro gekommen, die nicht in Ordnung waren. Da saß er dort und wir haben uns unterhalten.
SA: Danach haben Sie sich öfter getroffen?
HB: Ja.
SA: Können Sie Ihre Beziehung beschreiben?
HB: (unhörbar)
SA: Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden.
HB: Hat das mit der Sache zu tun?
SA: Versuchen Sie Ihre Beziehung mit Ihren Worten zu beschreiben.
HB: Mit wessen Worten sollte ich denn sonst … (unhörbar)
SA: Ich habe Ihre Antwort nicht verstanden.
HB: Wir mochten uns. Vielleicht waren wir verliebt. Es war so ein Gefühl.
SA: Wie lange hielt die Beziehung?
HB: Anderthalb Jahre oder so.
SA: Wie oft haben Sie sich getroffen?
HB: Als Paar, meinen Sie? Oder bei der Arbeit?
SA: Als Paar.
HB: Nicht sehr oft. Das Ganze war sehr schwierig für uns, vor allem für Rickard. Er hatte ja Familie – eine Frau. Ich lebe allein.
SA: Ich wiederhole die Frage, wie viele Male?
HB: Das kann ich nicht genau beantworten. Aber ich habe meinen Kalender dabei. –
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