Geh aus, mein Herz
er dieses Gesicht vor sich; es wurde jedoch immer verschwommener. Er sollte nicht mehr daran denken, es bedeutete nichts. Würde es etwas bedeuten, dann hätte er es mit irgendetwas in Verbindung gebracht. Andererseits: Er wurde das, was von diesen Zügen noch in seinem Bewusstsein übrig war, einfach nicht los. Da war etwas. Das Gesicht wollte ihm etwas sagen. Er wollte es danach fragen.
Dann dachte Wide an den »Fall«, in den er geraten war – oder zumindest stand er daneben und stocherte ein bisschen darin herum. Während der folgenden Stunde erstellte er Listen, zeichnete Karten und schrieb Namen von Mordopfern auf, bekannten Angehörigen, Ursprung und familiären Hintergrund, Orte, Erinnerungen, Handlungsmuster, Abstände von Zeit und Raum, Gesprächsfetzen. Kindheit.
Er sah ein Bild von sich, dem Zehnjährigen, der er einmal gewesen war, als keine Kamera ihn zu einer unnatürlichen Haltung gezwungen hatte, aber Jonathan Wide lächelte selten auf Bildern, auch in seinem ersten Lebensjahrzehnt. Ihm fiel ein, was er damals gedacht hatte: Was wird, wenn ich achtzehn bin? Weiter konnte er nicht denken. Es hatte eine Zeit danach gegeben, aber er konnte sie nicht richtig einfangen. Sein Vater war schon lange tot gewesen und die Erinnerungen verblassten wie seine ehemalige Lieblingshose. Außer einer: Sein Vater hatte ein Wikingerschiff aus Holz gebaut. Er war wie im Fieber gewesen, als sein Vater ihn mit in die Werkstatt genommen hatte, die er in dem Mietshaus hatte, in dem sie damals wohnten, und er mit der Hand über das glatt lackierte Holz fahren durfte.
Er erinnerte sich auch an das Dänisch seines Vaters, und er hatte sehr schnell gelernt, seine Herkunft zu verbergen.
Jonathan Wide legte die Papiere auf den Boden neben seine Füße, steckte den Stift in seine rechte Brusttasche und traf eine Entscheidung. Ja. So würde er es machen. Er würde es versuchen.
Darauf trank er. Er hatte geglaubt, dass er damit fertig wäre, jedenfalls für diesen Tag. Aber wer kommt schon so glimpflich davon?
19
Er war es, klar war er es, und Janne-Janne konnte erkennen, dass er groß war. Oder waren da noch andere, die spionierten? Vielleicht jemand vom Sozialamt, ach nee, die wurden inzwischen ja selbst arbeitslos. Der Kerl schien zu ihnen herkommen zu wollen. Scheiße, davon kriegte man eine Gänsehaut bis in die Zehenspitzen.
Schien einen warmen Dufflecoat zu tragen, so einen müsste man haben.
Eigentlich wollte er nicht noch mal aufstehen, nachdem er sein Bett vorbereitet hatte, aber Janne-Janne war schließlich kein Feigling. Also erhob er sich und ging ein Stück auf die Büsche zu. Da war der Typ, er entfernte sich in Richtung Viktoriagatan, wo das alte »Vickan« lag, in dem Janne-Janne früher Swing getanzt hatte. Das wollten die anderen ihm nie glauben, wenn er mal davon erzählte. Aber es stimmte.
Er folgte dem Mann, und das schaffte er gut, denn Sixten hatte ihn um den Rest in der Flasche gebracht. Als Janne-Janne sich mit seinem Bettzeug abgemüht hatte, war Sixten gestolpert, und da sei ihm reinweg aus Versehen der Rest in die Kehle gelaufen, behauptete er. Im Augenblick machte es Janne-Janne nichts aus, der Schnaps vom Nachmittag und die Pillen, die er von einem früheren Arbeitskollegen bekommen hatte, waren ihm sowieso nicht gut bekommen; das Zeug hatte ihn auch nicht gerade fröhlich gestimmt.
Der da vorn sah kein bisschen so aus wie auf dem Bild, das sie nach seinen Angaben auf dem Bildschirm gezeichnet hatten. Schicke Klamotten trug der, aber das hatte er im Dunkeln nicht erkennen können. Groß war er, das hatte er denen wohl gesagt, und jetzt sah er erst, wie groß, als er ihn ein wenig eingeholt hatte. Sie überquerten die Allén und betraten den Park. Der Kerl musste an die zwei Meter groß sein, das konnte er im Vergleich zu einigen Männern sehen, denen sie begegneten; die waren auch nicht gerade klein, genau wie Janne-Janne, und der war um die einsvierundachtzig gewesen, als er noch aufrecht stehen konnte.
Wohin war der eigentlich unterwegs? In Richtung Stadtgrenze ging es nicht; jetzt waren sie schon um den ganzen Park herumgewandert und bei der neuen Oper umgekehrt. Sie gingen wieder unten am Wasser entlang, die Markthalle erhob sich unheimlich am Kungstorget. Dort hatte er im Frühling viele Male gesessen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Der Kerl dahinten wollte im Park spazieren gehen, so viel war klar, eine kleine Promenade, aber jetzt … jetzt … was zum Teufel … Er
Weitere Kostenlose Bücher