Geh aus, mein Herz
etwas verzog.
»Die alte, übliche Story«, sagte sie und salutierte.
»Ist es wirklich so?«
»Das hast du doch gesehen. Neonazis und Skinheads dürfen ihre Versammlungen und Musikveranstaltungen abhalten, und die Polizei steht draußen und guckt zu, wenn drinnen ihre Rufe ertönen, und dann werden einige sauer auf die Polizei, weil die nichts tut … Aber heutzutage gibt’s auch ziemlich viel Applaus …«
»Warum unternimmt die Polizei denn nichts?«
»… und wenn die Polizei was tut, dann gibt es ein Geschrei wegen ungesetzlicher Dienstausführung und nicht respektierter Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit.«
»Es ist verdammt schwer.«
»Ja.«
»Wie sollte es denn sein, was wünschst du dir?«
»Keine Ahnung. Mal so, mal so, ich bin mir nicht ganz schlüssig. Aber ich weiß, dass jetzt mehr Versammlungen stattfinden, viel mehr. Es scheint keine Rolle mehr zu spielen, wenn sie keine Genehmigung bekommen.«
»Das stimmt.«
Der Vater streckte sich nach der Pfeife auf dem Tisch, bereitete sie vor und legte sie für den Spaziergang beiseite.
»Ich weiß, dass viele diesen Naziversammlungen zu Anfang des Krieges Einhalt gebieten wollten, den ›Deutschversammlungen‹, wie sie genannt wurden. Aber das ging natürlich nicht. Es war ja eine Frage der Klassen. Die, die gegen die Nazis waren, standen nicht gerade auf der höchsten Stufe der Leiter.«
»So ist es wohl immer.«
»Vielleicht. Einem Kollegen von meinem Vater ist übrigens was passiert. Sie waren beide Angestellte in einem Büro, also keine Arbeiter; da durfte man nicht wie ein Arbeiter denken. Büroangestellte waren etwas Besseres und sollten auch feinere Ansichten haben, das heißt, die Ansichten der Rechten teilen. Aber das kapierten weder mein Vater noch sein Kollege.«
»Sie haben widersprochen?«
»Das nicht, aber an ihrem Arbeitsplatz herrschte ganz klar Deutschenfreundlichkeit. Eines Abends fand so eine Sympathiedemonstration für die Deutschen statt und mein Vater stand wie üblich am Straßenrand und protestierte. Hinterher traf er seinen Kollegen, der wusste, wo die Typen sich aufhielten.«
»Und da sind sie hingegangen.«
»Ja. Vater fand es sinnlos, reinzugehen, doch sein Kollege, Arne hieß er übrigens, war der Meinung, man müsse denen da drinnen mal ordentlich den Marsch blasen, und das versuchte er auch. Sie haben ihn vermutlich eine Weile reden lassen, aber dann haben sie ihn rausgezerrt und ihn nach Strich und Faden zusammengeschlagen.«
»Aber das waren keine aus dem Büro?«
»Wer kann das wissen? Er war eine Weile krankgeschrieben, und da gab es viele, die fanden, ihm sei recht geschehen.«
Recht geschehen, recht geschehen, recht geschehen, hämmerte es in ihrem Kopf, als die Müdigkeit kam. Sie war zum zweiten Mal die Fünf-Kilometer-Runde auf halbem Weg den Mörderhügel hinaufgetrabt, ihre Schuhe schlidderten wie Mountainbike-Reifen, als sie sich dem höchsten Punkt entgegenstemmte. Es war ein Unterschied, im Wald zu laufen, im-Wald-zu-lau-fen, im-Wald-zu-lau-fen, dachte sie im Rhythmus ihrer Schritte, die immer energischer wurden auf dem weichen, feuchten Untergrund aus Rinde. Ihre Füße wurden förmlich eingesogen und ihre Schenkelmuskeln und Waden schmerzten leicht. Das war etwas anderes als Asphalt, ein Erlebnis zu laufen, wie es sein sollte, nicht dieses Hindurchlavieren zwischen Autos und Straßenbahnen, Betrunkenen auf den Straßen der Stadt; City girls they’re all right they just want you for the night, fuhr es ihr durch den Kopf, einer dieser kleinen, scharfen Gedankenblitze, die Läufern manchmal durch den Kopf schossen, wenn sie weit und lange gelaufen und müde geworden waren. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal mit einem Mann im Bett gewesen war, etwas, an das sich jede Frau ohne Schwierigkeiten erinnern sollte, aber vor ihrem inneren Auge entstand kein Gesicht, und das machte auch nichts. Einem Citygirl ging es nicht um ein Gesicht, es ging um andere hervorragende Teile, aber auch um den Intellekt, dachte sie und zog eine Grimasse angesichts der lang gezogenen Steigung vor ihr – das Gehirn des Mannes, das die Batterien fast den ganzen Abend in Gang hielten, und die übliche Enttäuschung, wenn der Hirntod und die Leichenstarre eintraten und in ihrer ganzen schimmernden Pracht demonstriert werden sollten, und dann war nicht mehr viel. Zwei Sekunden lang, die das Rückenmark betäubten, war es wunderbar, und hinterher hatte man das Gefühl, als wäre einem ein
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