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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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kommen.
    Wide schaute auf seinen Monitor. Hätte es geholfen, wenn es 1965 schon Computer gegeben hätte, als der ganze Mist in Flammen aufging? Oder wären die Speicherinhalte vom Feuer in die Luft gehoben und für ewig in der heißen elektronischen Nacht verstreut worden?
    »Habt ihr schon in Mariannelund recherchiert?«
    »Dort hat es jedenfalls nicht gebrannt, aber die Unterlagen scheinen ziemlich durcheinander zu sein.«
    »Gibt es denn eine Statistik?«
    »Eine ältere Angestellte in einem Büro dort war der Meinung, dass Kinder aus Mariannelund im Sommer regelmäßig in Sommerlager verschickt wurden. Rate mal, wohin.«
    »Nach Hindsekind.«
    »Genau.«
    »Aber da ist niemand, den man nach Arvidsson fragen kann? Angehörige, wie bei Melinder?«
    »Nein.«
    »War es übrigens Melinders Mutter?«
    »Ja, aber die Kripo von Eksjö hatte ihre liebe Mühe.«
    Wide fuhr sich über die Stirn, betrachtete seinen Handrücken, der schwach vom fetten Alkohol glänzte, der seinen Kopf verließ.
    »Vielleicht lebt der Leiter von diesem Sommerlager ja noch.«
    Er hörte Ard in der Leitung atmen.
    »Ich habe einen Namen in Schonen, aber der Namensträger ist tot. Eine Familie aus Schonen scheint im Auftrag der Sozialbehörde das Sommerlager geführt zu haben. Es soll einen Sohn geben, der irgendwie am Rande dabei war. Der befindet sich gerade im Ausland, reist in Asien herum und kommt erst in zwei Wochen nach Hause.«
    »Aber es ist nicht sicher, dass die oder er eine vollständige Statistik haben.«
    »Nein, ich habe es bei anderen nachgeprüft, aber sie haben keine Aufbewahrungspflicht wie die Behörde.«
    Wide rieb sich wieder die Stirn, musterte seine Hand. Trocken. Er hörte, dass Ards Stimme immer heiserer wurde.
    »Deine Stimme klingt nicht gut.«
    »Mich hat eine Grippe erwischt. Hab versucht, sie zu bekämpfen, aber sie hat gesiegt.«
    »Bist du zu Hause?«
    »Nee, wo denkst du hin. Zu Hause sterbe ich.«
    »Du kannst wohl nicht anders.«
    »Warten wir’s ab.«
    »Wir wissen also, dass Melinder im Sommerlager war«, nahm Wide den Faden wieder auf, »wir wissen, wann und wo, aber mehr wissen wir nicht.«
    »Falls es überhaupt von Bedeutung ist.«
    »Ja.«
    Es war still. Wide hörte noch deutlicher, wie angestrengt Sten Ard atmete, und dann sein Rasseln:
    »Hast du noch eine Idee?«
    »Ich denke nach.«
    »Gut.«
    »Ich lass wieder von mir hören.«
    »Okay.«
    Wide langte nach seinen Papieren. Er hatte sich ja schon vor dem Gespräch entschieden, es war nur eine Art Bestätigung. Montag würde er fahren. Zum Teufel mit dem NK.

20
    Wide stellte das Auto beim Sozialamt ab und ging die Västra Hamngatan in nördlicher Richtung zur Domkyrkan. Er überquerte den Kirchplatz und ging weiter durch die stillen, dunklen Straßen zum Wasser hinunter. Der Samstagabend war kälter als die Abende im vergangenen Monat. Wide atmete kräftig aus und sah seinen Atem wie eine Wolke in der Nacht. Der Dezember nahte, massig und kühl, wie eine hohe Leiter, die die Leute hinaufkletterten, um das Licht und die Freude hoch dort oben in der jouletide zu erlangen. Der Dezember bedeutete Erwartung und das Glitzern in den Augen eines Kindes und Hyazinthenduft in der Stille. Und er war auch noch etwas anderes, etwas, was das Leuchten in den Augen eines Kindes jäh verlöschen ließ, wenn Erwachsene keine Kraft hatten, ihre Bürde bis zum Tag der Erlösung, dem 24. zu tragen. Aber daran wollte er nicht denken, jetzt schon gar nicht, da er hundert Meter entfernt die schimmernde Fassade der Oper von Göteborg sah.
    Seine Oper nahm Wide ernst, vielleicht das Einzige, was er ernst nahm außer seinen Kindern, jetzt, wo er angefangen hatte, gegen den Alkohol zu kämpfen.
    Schon als Jugendlicher hatte er sich für Zehn-Kronen-Karten in der Oper herumgedrückt, anfangs nicht wegen der Musik. Es war mehr das Großartige am Schauspiel, die Gesten voll inhaltsreicher Leere. Das Mienenspiel. Das Drama. Wahrscheinlich war er als Erstes vom Drama gefangen genommen worden, den häufig etwas unklaren, dünnen Erzählungen von Verrat und menschlicher Kleinlichkeit und Größe. Wide war ein Mann der sparsamen Gesten, wenn er nicht zu betrunken war. Der Betrachter musste schon sehr genau hinschauen, um das Drama seines Lebens zu entdecken, das in seinem Gesicht spielte, und vielleicht fühlte er sich deswegen von diesem allem sofort angezogen, was die Opernkunst dem Publikum mit Kraft entgegenschleuderte.
    Am Nachmittag hatte er eine Weile in Eik Lindegrens Texten

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