Geheimakte: Das Vermächtnis von Nummer Sechs - das Erbe von Lorien
gleich darauf an mir ausüben.
»Ich bin Nummer Acht«, sage ich schließlich. Ich bin so verängstigt, als ich es ausspreche, stoße es mit solch einem verzweifelten und hoffnungslosen Seufzen aus, dass ich genau weiß: Er kauft es mir ab.
Sein Gesicht spricht Bände.
»Tut mir leid, dass ich euch enttäuschen muss«, krächze ich.
Seine Enttäuschung ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn plötzlich setzt er ein triumphierendes Grinsen auf. Ich bin vielleicht nicht die Nummer, die er gern gehört hätte, aber immerhin – er hat meine Nummer aus mir herausbekommen. Glaubt er zumindest.
Ich versuche, Katarinas Blick aufzufangen. Obwohl sie kaum noch bei Bewusstsein ist, kann ich in den Tiefen ihrer Augen |61| Dankbarkeit erkennen. Sie ist stolz auf mich. Stolz, weil ich ihm eine falsche Nummer verraten habe.
»Du bist wirklich ein schwaches Geschöpf, oder?« Er sieht mich geringschätzig an.
Lass ihn nur
, denke ich und spüre dabei einen Anflug von Überlegenheit. Er war dumm genug, mir meine Lüge abzukaufen.
»Deine Verwandten auf Lorien … Sie sind zwar schnell gefallen, aber immerhin haben sie gekämpft. Immerhin hatten sie eine gewisse Würde und sogar Mut. Aber du …« Er schüttelt den Kopf und spuckt auf den Boden. »Du hast
nichts
, Nummer Acht.«
Im selben Moment hebt er den Arm und rammt Katarina die Klinge tief in die Brust.
Ich höre das Geräusch brechender Knochen, höre, wie das Skalpell durch ihr Brustbein fährt und in ihr Herz eindringt.
Ich schreie. Meine Augen suchen Katarinas Augen. Für einen letzten Augenblick sieht sie mich an. Mit aller Kraft reiße ich an meinen Ketten und versuche, in diesem letzten Moment ganz nah bei ihr zu sein.
Aber der letzte Moment ist schnell vorbei.
Meine Katarina ist tot.
|62| 15
Wochen werden zu Monaten.
An manchen Tage geben sie mir nichts zu essen. Allein mein Amulett bewahrt mich vor dem Tod durch Verhungern oder Verdursten. Was ich allerdings viel schlimmer finde, ist die ständige Dunkelheit. Sonnenlicht gibt es nicht. Manchmal verliere ich das Gefühl dafür, wo mein Körper endet und die Dunkelheit beginnt. Ich verliere das Gefühl für meine Existenz, für meine Grenzen. Ich bin eine Tintenwolke in der Nacht. Schwarz in schwarz.
Ich komme mir vergessen vor. Ich bin eingesperrt und habe keine Hoffnung auf ein Entkommen. Und da ich ihnen keine Informationen gegeben habe, die sie zu den anderen führen könnten, bin ich nutzlos geworden. Bis zu dem Tag, an dem sie die anderen in der Reihenfolge vor mir getötet haben. Bis zum Tag meiner eigenen Auslöschung.
Der Drang zum Überleben ist in meinem Innern eingeschlummert. Ich lebe nicht, weil ich es will, sondern weil ich nicht sterben
kann
. Manchmal wünschte ich, ich könnte es.
Nichtsdestotrotz zwinge ich mich dazu, so fit, beweglich und kampfbereit zu bleiben, wie es nur eben geht. Push-ups, Sit-ups, das Schattenspiel.
Bei Letzterem habe ich gelernt, sowohl meine eigene als auch Katarinas Rolle zu spielen. Ich gebe mir selbst Instruktionen und beschreibe mir meine eingebildeten Angreifer, bevor ich mit eigenen Befehlen reagiere.
Früher habe ich dieses Spiel geliebt, jetzt hasse ich es. Aber zu Ehren Katarinas spiele ich es weiter.
|63| Ich habe den Mogadori angelogen, weil ich gehofft hatte, dass er Katarina dann verschonen und sie am Leben lassen würde. Aber in dem Augenblick, als sein Skalpell in ihr Herz drang, wurde mir bewusst, was ich
tatsächlich
getan hatte: Ich hatte ihr Ende beschleunigt. Ich hatte ihm alles erzählt, was ich wusste, damit er zu einem Ende kommen würde und sie nicht länger leiden musste. Damit ich nicht länger zusehen musste, wie sie litt.
Ich rede mir ein, dass ich richtig gehandelt habe. Dass es genau das war, was Katarina gewollt hat. Sie hat solche Qualen ausgestanden.
Aber jetzt bin ich schon so lange ohne sie hier, dass ich alles geben würde, um sie noch einmal zu sehen. Auch dann, wenn sie dafür unvorstellbare Folter erleiden müsste. Ich will sie zurückhaben.
Seit einiger Zeit versuchen die Mogadori, die Grenzen meiner bedingten Unsterblichkeit auszutesten. Die Planung und Durchführung dieser Versuche erfordert viel Zeit. Mindestens einmal pro Woche werde ich aus meiner Zelle gezerrt und einem weiteren Vernichtungsexperiment unterworfen.
In der Woche nach Katarinas Tod wurde ich in eine kleine Kammer gebracht. Ich musste mich auf ein hartkantiges Stahlgitter stellen, das sich ungefähr einen Meter über dem Boden befand. Dann
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