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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Gott! (Stimme nicht mehr hörbar)
    S äße ich jetzt im Chatroom oder wieder im Heizungskeller, würde ich entweder ein defektes Mikrophon vermuten oder aber eine Zielperson, die ihre Stimme ganz bewußt gesenkt hat. Die Verbindung ist noch da. Hintergrundgeräusche sind zu hören, verzerrt, Schritte, durcheinanderredende Stimmen auf dem Gang vor ihrem Zimmer, aber im Vordergrund nichts. Ich schließe daher, daß Hannah mit hängenden Armen dasteht und schluchzt – und noch dreiundfünfzig Sekunden weiterschluchzt, bevor sie an das Telefon in ihrer Hand denkt und ausschaltet. Ich wähle ihre Nummer und gerate an die Mailbox. Ich rufe im Krankenhaus an. Eine unbekannte Stimme teilt mir mit, daß das Personal während der Nachtschicht keine privaten Anrufe entgegennehmen darf. Der Bus füllt sich. Zwei Wanderinnen beäugen erst mich, dann die rote Sporttasche im Gepäcknetz über mir. Sie setzen sich ganz nach vorn, wo es sicherer ist.

14
    R ücksicht auf meine schlummernden Nachbarn ich die Treppe auf Zehenspitzen hoch, die rote Nylontasche wie ein Baby auf dem Arm, um damit nur ja nicht gegen das Geländer zu stoßen. Im Hochsommer sind die Samstage im Prince of Wales Drive unberechenbar. Einmal wird die halbe Nacht gefeiert, bis Penelope, wenn sie denn daheim ist, am Telefon die Polizei beschimpft und mit einem Artikel über mangelnde Polizeipräsenz droht. Ein andermal – sei es wegen der Schulferien, wegen der Bombenpanik oder weil heutzutage jeder ein Wochenendhaus hat – hört man, wenn man auf die Norfolk Mansions zugeht, nur die eigenen Schritte und das Indianergeheul der Eulen im Battersea Park. Doch jetzt hatte ich ohnehin nur einen Laut im Ohr, und das war Hannahs erstickte Stimme am Telefon.
    Wie üblich widersetzte sich mir das Schloß der Wohnungstür, was ich an diesem Abend als symbolisch empfand. Wie üblich mußte ich den Schlüssel ein paar Millimeter herausziehen, hin und her ruckeln, es ein zweites Mal versuchen. Als ich in der Diele stand, kam ich mir vor wie mein eigener Geist. Seit meinem Tod hatte sich nichts verändert. Das Licht brannte, wie nicht anders zu erwarten. Ich hatte es nicht ausgemacht, als ich kurz hereingestürmt war, um mir den Smoking anzuziehen, und Penelope war in der Zwi schenzeit nicht wieder zu Hause gewesen. Nachdem ich mir die verha ßten Schuhe von den Füßen geschleudert hatte, zog es mich zu dem minderwertigen Stich von Tintagel Castle, der seit fünf Jahren unbeachtet in der düstersten Ecke der Diele hing. Penelopes Schwester hatte ihn uns zur Hochzeit geschenkt. Die Schwestern konnten einander nicht ausstehen. Keine hatte irgendeine Beziehung zu Tintagel. Sie waren nie dagewesen, wollten nie hinfahren. Manche Geschenke sagen alles.
    Im ehelichen Schlafzimmer ri ß ich mir die Sträflingskleidung herunter und beförderte sie mit einer Mischung aus Ekel und Erleichterung in den Wäschekorb. Den zusammengerollten Smoking stopfte ich gleich hinterher. Vielleicht konnte Thorne the Horn dafür Verwendung finden, falls er sich zu einer Diät aufschwang. Als ich mein Rasierzeug aus dem Badezimmer holte, stellte ich mit einer gewissen Befriedigung fest, daß der blaue Kulturbeutel mit dem Teddybären, Penelopes Pressemappe, wie sie kokett dazu sagt, nicht in seinem Fach stand: Was eine Frau nicht alles braucht für einen Tag in Suffolk mit einer Horde feudaler Anzeigenkunden!
    Wieder im Schlafzimmer, kippte ich meine Beute, die B änder und Stenoblöcke, erst einmal aufs Bett und grübelte dann, Ordnungsfanatiker, der ich bin, konzentriert darüber nach, wie wohl Mr. Andersons Plastikreisetasche am besten zu entsorgen sei, bis mir der Mülleimer in der Küche einfiel. Ich war drauf und dran, auch Brian Sinclairs Visitenkarten darin zu versenken, hob sie im letzten Moment aber doch lieber auf – für schlechte Zeiten, wie Tante Imelda gesagt h ätte. Dann zog ich die Sachen eines freien Mannes an: Jeans, Turnschuhe, eine Lederjacke aus der Zeit vor Penelope, die ich mir zu meinem ersten bestandenen Examen geschenkt hatte, und als krönenden Abschluß meine dunkelblaue Pudelmütze, die sie mir als »zu afromäßig« verboten hatte.
    Ich schildere diese Handlungen linear und im Detail, weil sie f ür mich etwas Zeremonielles hatten. Jede Bewegung, die ich machte, war ein weiterer Schritt hin zu Hannah – falls sie mich denn noch wollte, was durchaus zweifelhaft war. Jedes Kleidungsstück, das ich aus der Kommode nahm, war Teil der Garderobe, die mich in mein neues

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