Geheime Melodie
gekränkte Unschuld in Person:
»Der Junge ist verrückt geworden. Ich werde mit seinem Vater reden. Also gut, geben Sie ihm, was er verlangt. Aber verrechenbar mit künftigen Einnahmen – und wir werden vom ersten Tag an alles daransetzen, es uns wieder zurückzuholen! Sagen Sie ihm das bitte, Philip. Ich bin offengestanden enttäuscht von Ihnen. Und von ihm auch. Wenn ich Sie nicht kennen würde, käme ich noch auf die Idee, mich zu fragen, wer hier mit wem Spielchen treibt.«
* * *
Um siebzehn Minuten nach acht kam ein junger Mann im wei ßen Kittel die Krankenhaustreppe heruntergeflattert, gefolgt von zwei Nonnen im grauen Ordenskleid. Um zwanzig nach erschien ein ganzes Knäuel von Pflegekräften, Männern und Frauen, die meisten von ihnen Schwarze. Aber irgendwie hatte ich es im Gef ühl, daß sich Hannah, wiewohl sonst ein geselliger Mensch, heute abseits halten würde. Um acht Uhr dreißig quoll der nächste Trupp heraus. Sie waren ein lustiger Haufen, und Hannah hätte gut dazugepaßt. Aber nicht heute. Um acht Uhr vierzig kam sie, allein, in der verkrümmten Haltung all derer, die im Gehen ihre Mailbox abhören. Sie trug ihre Schwesterntracht, aber ohne die Haube. Bisher kannte ich sie nur in der Tracht oder nackt. Ihre Stirn war gefurcht, auf die gleiche konzentrierte Weise wie beim Pulsmessen – oder bei der Liebe. Auf der untersten Stufe blieb sie stocksteif stehen, ohne sich um die Herauf- und Herabkommenden zu kümmern, die sich an ihr vorbeischieben mußten – erstaunlich bei einer so rücksichtsvollen Frau, aber mich erstaunte es nicht.
Sie blieb stehen und starrte vorwurfsvoll auf ihr Handy. Ich dachte schon, gleich w ürde sie es schütteln oder angeekelt wegwerfen. Schließlich aber drückte sie es, ihm den langen Hals entgegenneigend, wieder ans Ohr, und ich wußte, nun hörte sie die letzte der acht Nachrichten ab, die ich ihr im Lauf der Nacht auf Band gesprochen hatte. Sie hob den Kopf und ließ die Hand mit dem Telefon sinken, wahrscheinlich auch jetzt wieder, ohne es auszuschalten. Als ich bei ihr war, fing sie an zu lachen, doch als ich sie an mich zog, weinte sie. Und im Taxi weinte sie weiter, und dann lachte sie wieder, genau wie ich, lachend und weinend bis zu Mr. Hakims Pension, wo uns, kaum daß wir angekommen waren, die Scheu wahrer Liebender überkam, so daß wir einander loslassen und getrennt den gekiesten Vorplatz überqueren mußten. Beide wußten wir, da ß Erklärungen anstanden und wir den Weg zueinander mit Bedacht gehen mußten. Deshalb hielt ich ihr förmlich die Zimmertür auf und machte einen Schritt zur Seite, damit sie aus freien Stücken eintreten konnte, nicht auf mein Geheiß. Was sie nach sekundenlangem Zögern auch tat. Ich folgte ihr hinein und sperrte hinter uns ab, aber sie rührte sich nicht vom Fleck, weshalb auch ich mich bezwang und sie nicht in den Arm nahm.
Ich m öchte allerdings hinzufügen, daß ihre Augen die meinen nicht eine Sekunde losließen. Ihr Blick war weder vorwurfsvoll noch feindselig, sondern vielmehr so gründlich und forschend, daß ich mich fragte, wie viel von meiner Aufgewühltheit sie mir wohl ansah; schließlich hatte sie tagein, tagaus mit Männern in Nöten zu tun und verstand es, in ihren Gesichtern zu lesen. Und nachdem ihre Inspektion abgeschlossen war, nahm sie mich bei der Hand und führte mich durch das Zimmer, wie um die Verbindung zwischen mir und meinen Sachen herzustellen: Tante Imeldas Medaillon, meines Vaters Meßbuch und was ich sonst noch mitgebracht hatte, ehe sie sich – weil einer Diplomschwester nichts an ihrem Patienten so leicht entgeht – den hellen Streifen an meinem linken Ringfinger besah. Und dann hatte sie, wie durch Osmose, so kam es mir vor, plötzlich einen meiner vier Stenoblöcke in der Hand – ausgerechnet den dritten, in dem Maxies Kriegsplan detailliert ausgeführt war – und verlangte, fast wie Philip sechzehn Stunden zuvor, nach Erklärungen, die ich ihr aber jetzt noch nicht geben mochte, da die Strategie, die ich mir für ihre Einweihung zurechtgelegt hatte,
ein ausgekl ügeltes Timing vorsah, getreu den hohen Prinzipien des Geheimdienstgewerbes.
»Was heißt das hier?« Mit sicherem Instinkt zeigte sie auf eine meiner komplizierteren Hieroglyphen.
»Kivu.«
»Du hast über Kivu geredet?«
»Das ganze Wochenende. Beziehungsweise meine Auftraggeber haben über Kivu geredet.«
»In einem positiven Sinn?«
»Eher in einem … kreativen.«
Der Keim war gelegt, wenn auch nicht
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