Geheime Melodie
habe ich mir eingehandelt? Gleich den nächsten verheirateten Mann!«
Nicht mehr, sage ich.
Sie lacht und sch üttelt den Kopf und trinkt einen Schluck roten Hauswein, der, darin sind wir uns einig, mit das Mieseste ist, was wir je getrunken haben, schlimmer noch als das Gesöff, das sie uns einmal im Jahr auf dem Klinikfest vorsetzen, sagt sie, und das will was heißen, Salvo. Aber nicht so gemeingefährlich wie der Chianti bei Giancarlo, kontere ich und schiebe meine Geschichte von dem tapferen kleinen Herrn im Bella Vista in der Battersea Park Road ein.
Zwei Jahre nach Noahs Geburt war Hannah mit der Ausbildung fertig. Sie stieg zur Stationsschwester auf, brachte sich Englisch bei und ging dreimal die Woche in die Kirche. Machst du das heute auch noch, Hannah? Schon, aber nicht mehr so oft. Die jungen Ärzte sagen, Gott und die Wissenschaft vertragen sich nicht, und wenn sie ehrlich ist, sieht sie auf den Stationen auch nicht viele Spuren seines Wirkens. Doch das hält sie nicht davon ab, für Noah, ihre Familie und Kivu zu beten und in der Sonntagsschule ihrer Nordlondoner Kirche auszuhelfen, wo sie mit dem Rest an Glauben, der ihr geblieben ist, den Gottesdienst besucht.
Hannah ist stolz, eine Nande zu sein, und zu Recht, denn die Nande sind ber ühmt für ihren Unternehmungsgeist. Mit dreiundzwanzig kam sie über eine Agentur nach England, erzählt sie mir beim Kaffee und einem letzten Glas von dem gräßlichen Rotwein. Das hat sie mir zwar bereits erzählt, aber bei dem Spiel, das wir spielen, muß man nach jeder Abschweifung wieder von vorn anfangen. Die Engländer waren nicht übel, aber von der Agentur wurde sie wie ein Stück Scheiße behandelt – das erste Mal, daß ich ein Schimpfwort aus ihrem Mund höre. Noah bei ihrer Tante in Uganda lassen zu müssen zerriß ihr das Herz, aber dank einer Wahrsagerin aus Entebbe hatte sie ihre Bestimmung erkannt, die darin lag, ihr Wissen über die westliche Medizin zu vertiefen und Noah Geld zu schicken. Wenn sie genug gelernt und genug gespart hat, will sie mit ihm zusammen nach Kivu zurückkehren.
In der ersten Zeit tr äumte sie jede Nacht von Noah. Die Telefongespräche mit ihm nahmen sie so mit, daß sie sich schließlich auf wöchentlich einen Anruf zum Billigtarif beschränkte. Die Agentur hatte ihr ver schwiegen, da ß sie einen Eingliederungskurs machen mußte, der ihre gesamten Ersparnisse verschlang, und daß sie auf der Karriereleiter wieder ganz unten anfangen mußte. Die Nigerianerinnen, bei denen sie einquartiert wurde, zahlten die Miete nicht, bis der Vermieter schließlich die ganze Bagage vor die Tür setzte, auch Hannah. Um im Krankenhaus voranzukommen, mußte sie doppelt so gut sein wie ihre weißen Kolleginnen und doppelt so viel leisten. Aber mit Gottes Hilfe – beziehungsweise, so sah ich es eher, dank ihrer heroischen Anstrengungen – hat sie sich durchgebissen. Zweimal in der Woche besucht sie eine Weiterbildungsmaßnahme für einfache chirurgische Eingriffe in armen Ländern – heute abend wird sie den Kurs verpassen, aber sie holt das Versäumte schon wieder nach. Diese Qualifikation will sie auf jeden Fall noch schaffen, bevor sie zu Noah zurückkehrt.
Doch das Wichtigste hat sie sich bis zum Schlu ß aufgespart: Sie hat der Oberschwester eine Extrawoche unbezahlten Urlaub abgehandelt. Dann könnte sie auch mit ihren Sonntagsschulkindern für zwei Tage ans Meer fahren, sagt sie.
»Und hast du dir nur für die Sonntagsschulkinder freigenommen?« frage ich begierig.
Sie schnaubt nur. Eine ganze Woche Urlaub nehmen, auf den vagen Verdacht hin, da ß irgend so ein windiger Dolmetscher sein Versprechen hält? Lachhaft.
Der Kaffee ist getrunken, die Rechnung mit Maxies umgetauschten Dollar bezahlt. Ein paar Minuten noch, dann geht es zur ück in Mr. Hakims Pension. Hannah betrachtet gedankenvoll meinen Handteller und f ährt die Linien mit dem Fingernagel ab.
»Werde ich ewig leben?« frage ich.
Sie sch üttelt unwillig den Kopf und liest weiter in meiner Hand. Es waren fünf, sagt sie leise auf Swahili. Nicht wirklich ihre Nichten. Cousinen. Aber wenn sie an sie denkt, sind sie Nichten für sie. Töchter der Tante, die sie in Uganda aufgenommen hat und die heute Noah versorgt. Die einzigen Kinder ihrer Tante. Sie hatte keine Söhne. Im Alter zwischen sechs und sechzehn Jahren. Sie sagt ihre Namen auf, alle biblisch. Sie hält den Blick gesenkt, spricht in meine Hand, die Stimme ausdruckslos, ein einziger flacher Ton. Sie waren
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