Geheime Spiel
wird mir nicht gelingen zu vermitteln, welch seltsame Anziehungskraft es auf mich ausübte. Das Zimmer war groß, rechteckig und düster, und es wies überall Spuren geduldeter Vernachlässigung auf. Es strahlte Verlassenheit aus, als stammte es aus einem uralten Märchen, und schien wie nach einem Fluch in einen hundertjährigen Schlaf versunken. Die Luft lastete schwer und kalt und reglos, und in der Puppenstube neben dem offenen Kamin war der Esstisch für Gäste gedeckt, die nie kommen würden.
Die Tapete mochte einmal blau-weiß gestreift gewesen sein, aber die Zeit und die Feuchtigkeit hatten dafür gesorgt, dass sie grau und fleckig war und sich an manchen Stellen von den Wänden löste. Verblasste Bilder mit Szenen aus Hans-Christian-Andersen-Märchen hingen an einer Wand: der tapfere Zinnsoldat im Feuer, das hübsche Mädchen in den roten Schuhen, die kleine Meerjungfrau, die um ihre Vergangenheit weint. Es roch muffig in dem Zimmer, nach Geisterkindern und altem Staub. Als gäbe es noch einen Rest Leben dort.
An einer Seite befand sich ein verrußter Kamin mit einem Ledersessel davor, die angrenzende Wand hatte riesige Fenster mit Rundbögen. Wenn ich auf die Fensterbank aus dunklem Holz kletterte und durch die Bleiglasfenster hinausspähte, konnte ich in einen Hof sehen, in dem zwei bronzene Löwen auf verwitterten Säulen auf den Gutsfriedhof unten im Tal hinausschauten.
Ein abgenutztes Schaukelpferd stand vor dem Fenster, ein würdevoller Apfelschimmel mit freundlichen schwarzen Augen, der dankbar zu sein schien, als ich ihn von der Staubschicht befreite, die ihn bedeckte. Und daneben, still und treu, stand Raverley. Der schwarzbraune Jagdhund, der Lord Ashbury gehört hatte, als dieser noch ein Junge war, war eingegangen, nachdem er mit einem Bein in eine Falle geraten war. Der Tierpräparator hatte sich Mühe gegeben, den Schaden zu beheben, aber kein noch so schöner Fellflicken konnte verbergen, was darunter lauerte. Ich gewöhnte mir an, Raverley mit einem Laken zu bedecken, während ich meine Arbeit in dem Zimmer verrichtete. So konnte ich beinahe so tun, als sei er nicht da, als würde ich die klaffende Wunde und das Starren der gläsernen Augen nicht sehen.
Aber trotz Raverley, trotz des modrigen Geruchs und der sich lösenden Tapete wurde das Kinderzimmer zu
meinem Lieblingszimmer. Wie vorhergesagt, fand ich es Tag für Tag leer vor, weil die Kinder sich anderswo auf dem Anwesen vergnügten. Ich begann, mich mit der Arbeit zu beeilen, damit ich ein paar Minuten für mich allein in dem Zimmer hatte, weit weg von Nancys ständigen Ermahnungen, von Mr Hamiltons tadelnden Blicken, von der rauen Kumpelhaftigkeit der anderen Dienstboten, die mich immer spüren ließen, wie viel ich noch zu lernen hatte. Nach einer Weile verbrachte ich meine gestohlenen Minuten nicht mehr mit angehaltenem Atem, sondern genoss die Einsamkeit, betrachtete das Kinderzimmer als mein Zimmer.
Und dann waren da noch die Bücher, so viele Bücher, mehr, als ich je auf einem Haufen gesehen hatte: Abenteuergeschichten, historische Romane, Märchenbücher, alle dicht an dicht auf einem riesigen Regal neben dem Kamin. Einmal habe ich es gewagt, eins herauszunehmen, eines, das ich nur wegen des schönen Rückens ausgesucht hatte. Ich fuhr mit der Hand über den staubigen Einband, schlug es auf und las den erhaben gedruckten Namen des Autors: TIMOTHY HARTFORD. Dann blätterte ich die steifen Seiten um, atmete den schimmeligen Geruch ein und ließ mich an einen anderen Ort und in eine andere Zeit davontragen.
Ich hatte in der Dorfschule lesen gelernt, und meine Lehrerin, Miss Ruby, anscheinend erfreut über eine so eifrige Schülerin, hatte irgendwann angefangen, mir Bücher aus ihrer eigenen Sammlung zu leihen: Jane Eyre, Frankenstein, Die Burg von Otranto . Wenn ich sie zurückgab, unterhielten wir uns über unsere Lieblingsstellen. Es war Miss Ruby, die mir vorschlug, vielleicht selbst Lehrerin zu werden. Aber meine Mutter war nicht gerade begeistert, als ich ihr davon erzählte. Sie meinte, es sei ja nett von Miss Ruby, mir große Ideen in den Kopf zu
setzen, aber große Ideen reichten nicht, um Brot und Butter auf den Tisch zu bringen. Kurz darauf hatte sie mich nach Riverton geschickt, zu Nancy und Mr Hamilton und zu dem Kinderzimmer …
Und eine Zeit lang war das Kinderzimmer mein Zimmer, waren die Bücher meine Bücher.
Aber eines Tages kam Nebel auf, und es begann zu regnen. Als ich den Flur hinuntereilte, um mich
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