Geheime Spiel
in ein Bilderlexikon zu vertiefen, das ich am Tag zuvor entdeckt hatte, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Aus dem Zimmer kamen Stimmen.
Das musste der Wind sein, redete ich mir ein, der die Geräusche von einem anderen Raum im Haus herübertrug. Eine Täuschung. Aber als ich die Tür einen Spaltbreit öffnete und hineinlugte, zuckte ich vor Schreck zusammen. Drinnen waren Leute. Junge Leute, die perfekt in dieses verwunschene Zimmer passten.
Und in diesem Augenblick, ohne die geringste Vorwarnung, hörte es auf, mein Zimmer zu sein. Ich stand da wie versteinert, wusste nicht, ob ich hineingehen und meine Arbeit verrichten oder später noch einmal wiederkommen sollte. Ich riskierte noch einen Blick, eingeschüchtert von dem Lachen der Menschen. Von ihren selbstsicheren Stimmen. Von ihren glänzenden Haaren und den noch strahlenderen Schleifen in ihren Frisuren.
Die Blumen halfen mir, eine Entscheidung zu treffen. Sie verwelkten in der Vase auf dem Kaminsims. Blütenblätter waren über Nacht abgefallen und lagen um die Vase herum wie ein stummer Vorwurf. Ich konnte nicht riskieren, dass Nancy sie zu sehen bekam, sie hatte mich ganz eindeutig auf meine Pflichten hingewiesen. Hatte mir zu verstehen gegeben, dass meine Mutter davon erfahren würde, falls ich das Missfallen meiner Dienstherren erregen sollte.
Mr Hamiltons Anweisungen im Kopf, Besen und Handfeger vor die Brust geklemmt, schlich ich auf Zehenspitzen zum Kamin und konzentrierte mich darauf, mich möglichst unsichtbar zu machen. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Sie waren es gewöhnt, ihr Heim mit einer Armee von unsichtbaren Hausgeistern zu teilen. Sie ignorierten mich, während ich so tat, als würde ich sie ignorieren.
Zwei Mädchen und ein Junge: das jüngste Kind etwa zehn, das älteste noch nicht ganz siebzehn. Alle drei sahen aus wie typische Ashburys – goldblondes Haar und Augen so blau wie ceylonesische Saphire –, das Erbe von Lord Ashburys Mutter, einer Dänin, die, will man Nancy glauben, aus Liebe geheiratet hatte und daraufhin enterbt worden war. Aber sie hatte zuletzt triumphiert, sagte Nancy, als der Bruder ihres Mannes starb und sie Lady Ashbury wurde.
Das größere Mädchen stand mitten im Zimmer, einen Stapel Zettel in der Hand, und beschrieb die Auswirkungen einer Leprainfektion. Das jüngere Mädchen hockte im Schneidersitz auf dem Boden und lauschte ihrer Schwester mit großen Augen, einen Arm um Raverleys Hals gelegt. Überrascht und leicht entsetzt stellte ich fest, dass der Hund aus seiner Ecke gezerrt worden war und einen seltenen Moment der Zugehörigkeit genoss. Der Junge kniete auf der Holzbank unter dem Fenster und schaute durch den Nebel zum Friedhof hinüber.
»Und dann drehst du dich zum Publikum um, Emmeline, und dein Gesicht ist vollkommen entstellt von der Lepra«, sagte das große Mädchen mit hämischem Vergnügen.
»Was ist Lepra?«
»Eine Hautkrankheit«, sagte das ältere Mädchen. »Verwachsungen und Fäule, wie das eben so ist.«
»Vielleicht könnte ihre Nase abfaulen«, sagte der Junge und zwinkerte Emmeline zu.
»Ja«, erwiderte Hannah ernst. »Großartige Idee.«
»Nein«, jammerte Emmeline.
»Mensch, Emmeline, stell dich doch nicht an wie ein Baby. Sie wird dir doch nicht wirklich abfaulen«, sagte Hannah. »Wir basteln eine Maske. Irgendwas Scheußliches. Ich seh mal in der Bibliothek nach, vielleicht finde ich ja ein medizinisches Buch. Am besten eins mit Bildern. «
»Wieso muss ich unbedingt diejenige sein, die Lepra kriegt?«, quengelte Emmeline.
»Das musst du Gott fragen«, sagte Hannah. »Er hat’s geschrieben.«
»Aber warum muss ich die Miriam spielen? Kann ich nicht eine andere Rolle bekommen?«
»Es gibt keine anderen Rollen«, entgegnete Hannah. »David muss Aaron spielen, weil er der Größte ist, und ich spiele Gott.«
»Kann ich nicht Gott sein?«
»Natürlich nicht. Ich dachte, du wolltest unbedingt die Hauptrolle haben.«
»Wollte ich ja auch«, sagte Emmeline. »Will ich auch.«
»Na bitte. Gott erscheint ja nicht mal auf der Bühne«, sagte Hannah. »Ich muss meinen Text hinterm Vorhang aufsagen.«
»Ich könnte Moses spielen«, meinte Emmeline. »Dann kann Raverley Miriam sein.«
»Den Moses spielst du auf keinen Fall«, erklärte Hannah. »Wir brauchen eine richtige Miriam. Sie ist viel wichtiger als Moses. Er hat nur eine einzige Textzeile. Deswegen kann Raverley die Rolle übernehmen. Ich kann seinen Text hinter dem Vorhang sprechen
Weitere Kostenlose Bücher