Geheime Spiel
hatte alles verändert, bei denen da oben und bei uns hier unten. Wie schockiert wir alle waren, als nach dem Krieg die neuen Dienstboten eintrafen (und meist kurz darauf wieder verschwanden) und Mindestlöhne und bezahlte Urlaubstage verlangten. Vorher war die Welt noch in Ordnung gewesen, die gesellschaftlichen Unterschiede eindeutig und unerschütterlich.
An meinem ersten Tag auf Riverton rief Mr Hamilton mich in sein Anrichtezimmer im hinteren Ende des Dienstbotentrakts, wo er gerade die Times bügelte. Er richtete sich auf und rückte die runde Brille auf seiner langen Nase zurecht. Meine Einführung in »die Gepflogenheiten« war so wichtig, dass Mrs. Townsend, die gerade dabei war, die Galantine fürs Mittagessen zuzubereiten, ihre Arbeit unterbrach, um Zeugin des Vortrags zu werden. Nachdem Mr Hamilton sorgfältig meine Arbeitskleidung überprüft und offenbar nichts daran auszusetzen hatte, begann er, mir den Unterschied zwischen ihnen und uns zu erklären.
»Vergiss nie«, sagte er feierlich, »welches Glück dir widerfahren ist, dass du in einem so vornehmen Haus Dienst tun darfst. Aber das Glück bringt auch Verantwortung mit sich. Dein Betragen fällt immer auf die Familie zurück, und deswegen musst du stets dein Bestes geben, ihre Geheimnisse wahren und dir ihr Vertrauen verdienen. Denk daran, dass der Hausherr immer weiß, was das Richtige ist. Nimm dir ihn und seine Familie zum Vorbild. Diene ihnen still … willig … dankbar. Du wirst wissen, dass du deine Arbeit gut gemacht hast, wenn niemand davon Kenntnis nimmt, du wirst wissen, dass
du eine gute Arbeitskraft bist, wenn niemand dich bemerkt. « Dann hob er den Kopf und blickte über mich hinweg, die Wangen vor Ergriffenheit gerötet. »Und Grace – vergiss nie, welche Ehre sie dir erweisen, indem sie dir gestatten, in ihrem Haus Dienst zu tun.«
Ich wage kaum, mir vorzustellen, was Sylvia wohl dazu gesagt hätte. Auf keinen Fall hätte sie sich diesen Vortrag so still angehört, wie ich es tat, ihr Gesicht hätte nicht geglüht vor Dankbarkeit und dem vagen Gefühl, im Gefüge der Welt eine Stufe emporgehoben worden zu sein.
Als mein Blick auf den Platz auf der Bank neben mir fällt, bemerke ich, dass sie das Foto hat liegen lassen, das Foto von diesem neuen Mann, der sie mit Plaudereien über Geschichte becirct und sich in seiner Freizeit mit der Aristokratie beschäftigt. Ich kenne diese Sorte. Sie sammeln Zeitungsausschnitte und Fotos und fertigen aufwendige Familienstammbäume an von Familien, zu denen sie nie gehören werden.
Meine Worte klingen verächtlich, aber das täuscht. Ich finde es höchst interessant, wie die Zeit Lebensläufe ausradiert und nur blasse Spuren übrig lässt. Blut und Geist verschwinden, und nur Namen und Daten bleiben übrig.
Ich schließe die Augen. Die Sonne steht inzwischen tiefer, und meine Wangen sind jetzt warm.
Die Leute von Riverton sind alle schon so lange tot. Mich hat die Zeit verwittern lassen, während sie ewig jung und schön bleiben.
Gott, ich werde schon wieder sentimental. Denn sie sind weder jung noch schön. Sie sind tot. Begraben. Nichts mehr. Existieren nur noch in der Erinnerung derer, die sie einmal gekannt haben.
Andererseits sind die, die in der Erinnerung weiterleben, unsterblich.
Als ich Hannah und Emmeline und ihren Bruder David zum ersten Mal sah, debattierten sie gerade über die Auswirkungen der Lepra auf das menschliche Gesicht. Sie waren schon seit einer Woche auf Riverton – sie verbrachten jedes Jahr den Sommer dort –, aber bis zu dem Tag hatte ich nur hin und wieder ihr Lachen gehört und ihre Schritte in den ächzenden Mauern des alten Hauses vernommen.
Nancy war der Meinung, ich sei zu unerfahren, um Angehörige der vornehmen Gesellschaft zu bedienen – mochten sie auch noch so jung sein –, und hatte mir nur Arbeiten aufgetragen, die mich möglichst von den Besuchern fernhielten. Während die anderen Dienstboten zwei Wochen lang damit beschäftigt gewesen waren, alles für die Ankunft der erwachsenen Gäste vorzubereiten, oblag mir die Verantwortung für das Kinderzimmer.
Selbstverständlich waren sie zu alt für das Kinderzimmer, erklärte Nancy, und sie würden es wahrscheinlich nicht einmal betreten, aber es gehörte zur Tradition, und deswegen musste das große Zimmer am Ende des Ostflügels gründlich gelüftet und gesäubert und täglich mit frischen Blumen versehen werden.
Ich könnte das Zimmer noch heute genau beschreiben, aber ich fürchte, es
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