Geheime Tochter
rastlosen Gedanken, die ihr durch den Kopf wirbelten: Gedanken an Ashas Abreise, an die Wut ihrer Tochter auf sie, an ihre Konflikte mit Krishnan, an die Beförderung, die ihr entgangen war, an ihre unsichere Zukunft. Shavasana , die Totenstellung, in der man Geist und Körper entspannen soll, war ihr Feind – die einzige Zeit, in der sie gezwungen war, sich ihren dunkelsten Gedanken zu stellen. Und sobald die Gedanken kamen, kannten sie kein Halten mehr. Sie durchdrangen die Zeit, die sie allein war, wenn ihr die Einsamkeit aufs Gemüt schlug, wenn die Stille ihreWohnung einhüllte. Dann, an einem Sonntagmorgen, als sie im Bett lag und die Stunden bis zu ihrem Telefonat mit Asha zählte, wurde Somer mit einem Mal klar, dass all ihre Bemühungen, Asha zu beschützen, nach hinten losgegangen waren. Aus Angst hatte Somer sie nicht loslassen wollen und zu sehr geklammert – und damit die genau gegenteilige Wirkung erzielt. Sie hatte Asha vertrieben. Genau wie in der Baumposition hatte ihr dauerndes Bemühen sie aus dem Gleichgewicht gebracht.
Als sie eines Morgens vor der Arbeit unter der Dusche stand, bis das Wasser kalt wurde, merkte Somer zunächst, dass sie das ganze heiße Wasser verbraucht hatte, und dann, dass niemand mehr da war, für den sie damit hätte sparsam umgehen sollen. In diesem Moment gestand Somer sich ein, dass sie an irgendeinem Punkt aufgehört hatte, in ihre Ehe zu investieren. Sie hatte immer von Kris erwartet, sich an ihre Kultur anzupassen, wie er es am Anfang getan hatte. Auch noch nachdem sie ein indisches Baby adoptiert hatten, auch als er Heimweh hatte, auch als er sie bat, mit ihm zusammen hinzufliegen. Somer hatte das Gefühl, ihrer Familie schon so viel gegeben zu haben. Aber wie ihre Mutter immer sagte, eine Ehe konnte nur dann gelingen, wenn beide Partner wirklich ihr Bestmögliches dafür taten. Und dann noch ein bisschen mehr. Und irgendwo in diesem bisschen mehr, in dem Raum, der durch Großzügigkeit ohne gegenseitige Aufrechnerei entstand, entschied sich, welche Ehe gelang und welche nicht. Jedes Mal, wenn Sundari eine ihrer vielen Fragen über Indien und seine Kultur stellte, Fragen, die Somer nicht beantworten konnte und sich auch nie selbst gestellt hatte, kam ihr der Gedanke, dass es auch einen anderen Weg gegeben hätte. Sie hätte das, was sie von sich wegschieben wollte, auch annehmen können. Ein minimaler Perspektivwechsel, eine kleine Fokusverlagerung hätten womöglich den Unterschied ausgemacht.
Während sie sich jetzt in Shavasana entspannt, die Finger öffnet, denkt Somer an Asha und Krishnan, die zusammen auf der anderen Seite des Globus sind. Zum ersten Mal ist sie durch einen Ozean von den zwei Menschen getrennt, aus denen das Gefüge ihres Lebens besteht. Als beide verkündeten, dass sie nach Indien wollten, hielt sie die Entscheidungen für überstürzt, nur dazu gedacht, sie zu bestrafen. Doch inzwischen begreift Somer, dass sich diese Entscheidungen seit Jahren angebahnt haben. Sie war es, die aus Wut und Angst gehandelt hat, die sich von ihrer Familie abgewendet hat, ohne die Auswirkungen dieser Entscheidung zu überdenken. Genau wie sie einen Mann aus einer anderen Kultur geheiratet hat, ohne zu verstehen, was das für ihn bedeutete. Genau wie sie ein Kind aus Indien adoptiert hat, ohne die Folgen zu durchdenken. In ihrem ständigen Bestreben, den nächsten Meilenstein auf ihrem Weg zu erreichen, hat sie es versäumt, den eigentlichen Weg infrage zu stellen oder nach vorn zu schauen.
49
Der einzig sichere Boden
Mumbai, Indien – 2005
Asha
Die ersten beiden Adressen erweisen sich als fruchtlos, denn die dort wohnenden J. Merchants kommen nicht infrage. Es war mühselig für Asha, sich so weit verständlich zu machen, dass sie zumindest das in Erfahrung bringen konnte. Auf dem Weg zur dritten Adresse auf ihrer Liste wünscht sie, Parag wäre dabei, um für sie zu dolmetschen. Sie kommt sich allmählich blöd vor, dass sie gedacht hat, sie könne ihre Eltern in dieser Riesenstadt mit ihren zwölf Millionen Menschen finden, falls sie überhaupt in Mumbai leben. Was, wenn sie in einem dieser Dörfer wohnen, die Deshpande erwähnt hat? Als der Fahrer vor einem schäbigen Mietshaus hält, zögert Asha auszusteigen. Doch er versichert ihr mit noch mehr unverständlichem Kauderwelsch und energischen Gebärden, dass sie an der richtigen Adresse ist. Als sie unten an der Tür keine Namensschilder entdeckt, steigt sie die Treppe hinauf, wo es nach Exkrementen
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