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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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sagt der Uniformierte, als ein gleichgekleideter Mann hereinkommt, bei dem es sich um den regulären Portier handeln muss. »Die Frau sucht Kavita Merchant. Keine Kavita auf Liste. Ich habe gesagt, hier wohnt nur ein Merchant. Vijay Merchant.«
    »Was? Blödmann. Du hast keine Ahnung«, sagt der Portier und plappert dann irgendwas, das sie nicht versteht, außer den Namen Kavita und Vijay . Der Portier wendet sich ihr zu und erklärt: »Bitte, dieser Mann ist verwirrt. Kavita Merchant wohnt hier, ja. Nur die Wohnung ist auf Vijays Namen. Das ist der Grund für Verwirrung.«
    »Vijay?«
    » Hahnji . Vijay. Ihr Sohn.«
    Was? »Nein, das kann sie nicht sein. Sie … hat keine Kinder. Ich glaube nicht, dass die Frau Kinder hat. Kavita Merchant?«, fragt sie erneut und vergewissert sich noch einmal mit einem Blick in ihr Notizbuch. » M-e-r-c-h-a-n-t . Der Name ihres Mannes ist Jasu Merchant.«
    » Hahnji , Madam«, sagt der Portier, schaut sie direkt anund sagt mit fester Überzeugung: »Kavita und Jasu Merchant. Und ihr Sohn Vijay. Wohnung sechs-null-zwei.«
    Ihr Sohn. Das Wort gellt ihr durch den Kopf, während sie versucht, sich einen Reim darauf zu machen. »Sohn?«
    » Hahnji , Sie kennen ihn!«, deutet der Portier die Wiederholung als Verstehen. »Ungefähr in Ihrem Alter. Neunzehn, zwanzig.«
    Mein Alter? »Sind Sie … sicher?« Die Worte und Zahlen prallen in Ashas Kopf gegeneinander wie Billardkugeln. Plötzlich ordnen sich die Fakten auf unmissverständliche Weise. Alles ergibt endlich einen Sinn und dann auch wieder nicht. Ihre richtigen Eltern haben noch ein Kind bekommen, einen Sohn. Ein Kind, das sie behalten haben. Sie hat einen bitteren, beißenden Geschmack im Mund. Sie haben ihn behalten. Ihren Sohn. Sie haben ihn behalten und mich nicht.
    Sie hört die Stimme des Portiers wie aus weiter Ferne, schnappt aber nur Bruchstücke auf. »Kavita … für eine Weile weg … zurück in ihr Dorf … kommt in ein paar Wochen wieder.«
    Der Boden schwankt unter ihren Füßen. Sie stolpert und findet irgendwie die Stufe der Treppe, um sich hinzusetzen. Ihre Mutter war doch verheiratet. Ihre Eltern wollten doch ein Kind. Sie konnten sich doch eins leisten. Bloß mich nicht. Mich wollten sie nicht.
    Sie ist sich vage bewusst, dass die beiden Männer sie jetzt beobachten, aber sie kann die Tränen nicht aufhalten, die ihr über die Wangen laufen. »Tut mir leid … es war ein langer Tag. Ich bin die Hitze nicht gewohnt«, sagt sie zur Erklärung. »Mir geht’s gut. Keine Sorge.« Noch während sie die Worte ausspricht, wird ihr klar, wie absurd sie sich für diese zwei Fremden anhören muss. Sie machen sich keine Sorgen um sie wie Dadaji, die wahrscheinlichzu Hause mit einer Tasse chai auf sie wartet. Oder wie ihr Vater, der sie vor ihrer Fahrt zum Waisenhaus angerufen hat, um ihr Glück zu wünschen. Oder auch wie ihre Mutter, die für sie vor der Abreise nach Indien die bitteren Malariapillen zerkleinert und mit Fruchtsmoothies vermischt hat, damit sie sie leichter runterkriegt.
    Sie vergräbt den Kopf in den Händen und weint hilflos vor diesen beiden Männern, für die sie genauso unbekannt ist, wie sie es für Kavita und Jasu wäre, wenn sie jetzt in diese Eingangshalle kämen. Bei diesem Gedanken spürt Asha, wie sich ihr Magen zusammenzieht. Panik befällt sie bei der Vorstellung, sich noch mehr zu erniedrigen. Ich muss hier raus . Laut schniefend rappelt sie sich hoch und hebt ihren Rucksack auf. Der Druck in ihrer Lunge nimmt zu, und sie hat nur den einen Gedanken: dass sie nach draußen muss. »Ich muss gehen.« Sie wendet sich zur Tür.
    »Wie heißen Sie?«, ruft einer der beiden hinter ihr her, als sie aus dem Gebäude hastet. »Ich sage ihr, dass Sie da waren.«
    Die Luft draußen ist smoggeschwängert, aber dennoch angenehmer als das Gebäude mit seinen Offenbarungen. Sie möchte nur noch ganz weit weg von dort. Eine Fahrradrikscha hält neben ihr. »Taxi, Madam?« Der Fahrer grinst sie mit einem Mund voller schiefer, fleckiger Zähne an.
    Sie steigt ein und sagt: »Churchgate, jaldi! « Sie hat sich Priyas Marotte angewöhnt, jedem Taxifahrer automatisch zu sagen, dass er sich beeilen soll, hat es aber nie so ernst gemeint wie jetzt.
    Der Mann strampelt los.
    In dem Moment fällt ihr ein, dass sie dem letzten Taxifahrer ihr ganzes restliches Geld gegeben hat. Sie kanndiese Fahrt gar nicht bezahlen. Verzweifelt durchsucht sie ihren Rucksack, öffnet den Reißverschluss von sämtlichen Innentaschen und

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