Geheime Tochter
Formular längst auswendig kennt.
Name: Usha
Geboren: 18.08.1984
Geschlecht: w
Mutter: Kavita Merchant
Vater: Jasu Merchant
Alter bei Ankunft: 3 Tage
Nur spärliche Einzelheiten, und dennoch haben sie ihr bereits Neues offenbart. Ihre Mutter war nicht ledig. Ihre Eltern waren verheiratet, und sie kennt ihre Namen. Ihr eigener Name in ihrem ersten Lebensjahr war Usha Merchant. Asha übt, ihn hinzuschreiben, zunächst in Druckbuchstaben, dann als Unterschrift und schließlich bloß die Initialen, mit denen sie ihre Artikel abzeichnet. Sie betrachtet ihr Spiegelbild in dem dunklen Monitor vor sich.
Usha Merchant. Sieht sie aus wie eine Usha? »Usha Merchant«, sagt sie und streckt dem Hefter auf ihrem Schreibtisch die Hand hin, als wolle sie sich vorstellen. Asha legt den Kopf auf die Rückenlehne ihres Sessels und starrt an die Decke. Dann ruft sie Meena im Büro nebenan zu: »Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll. Wie soll ich sie bloß finden?«
»Na, da bist du doch hier genau richtig. Die Times hat Zugriff auf die beste Datenbank in Indien«, sagt Meena, als sie zu ihr kommt. Sie beugt sich über Asha, um auf ihrer Tastatur zu tippen. »Wir haben umfassende Informationen über alle großen Städte.«
»Und wenn sie nicht in einer großen Stadt lebt? Wenn sie in irgendeinem Dorf lebt? Der Waisenhausdirektor hat gesagt, sie ist von weiter hergekommen, zu Fuß, glaube ich, aus einem Dorf.«
Meena hält inne und sieht sie an. »Wirklich?«
»Ja, wieso?«
»Das ist bemerkenswert. Dass eine Frau das macht, vor allem damals, als die öffentlichen Verkehrsmittel noch nicht so zuverlässig waren. Sie muss ganz schön entschlossen gewesen sein, dich herzubringen.« Meena zieht einen Stuhl heran. »Okay, ich zeige dir, wie du vorgehen musst. Es sind nur die großen Städte, aber du könntest eigentlich gleich hier anfangen. Mit Mumbai. Sei froh, dass sie nicht Patel heißen oder so. Am einfachsten findest du deine Mutter über einen männlichen Angehörigen, über Grundbesitz und dergleichen. Okay, los geht’s, eine Auflistung von Mietern mit dem Namen Merchant … oha, das sind ja doch eine ganze Menge.«
Eine Kavita ist nicht darunter, aber es sind Dutzende Jasu Merchants oder J. Merchants allein in Mumbai aufgeführt, und dabei haben sie mit anderen großen Städten nicht mal angefangen. Asha stellt eine lange Liste mit Namen zusammen und versucht in den Stunden danach, bruchstückhafte Informationen zusammenzufügen. Am Ende des Tages hat sie die Auswahl auf drei infrage kommende Namen eingegrenzt, die aber nicht unbedingt einen Treffer garantieren. Dennoch, sie ist voller Hoffnung, als sie Richtung Aufzug geht, ihr Notizbuch an die Brust gedrückt.
»Wünsch mir Glück«, sagt sie über die Schulter zu Meena. »Wer weiß, was ich finde.«
48
Revolution
Palo Alto, Kalifornien – 2005
Somer
»Stellt euch vor, ihr seid ein starker Baum, ein majestätischer Baum, und atmet tief in den Bauch.« Genevieve, die Yogalehrerin, hat eine wohltuende Stimme, die ihr nachhallt, während sie sich zwischen der Gruppe hindurchschlängelt, die sich im Raum verteilt hat. Somer steht kerzengerade und hält die Arme hoch über den Kopf, die Handflächen aneinandergelegt. Sie hat eine Fußsohle fest gegen den Oberschenkel gestemmt und die Augen gebannt auf einen kleinen weißen Fleck an der Backsteinwand vor ihr gerichtet. Vrikshasana , die Baumposition, bereitete ihr anfänglich Probleme, als sie vor zwei Monaten mit Liza diesen Kurs anfing. Ständig wackelte Somer auf einem Fuß und fiel aus der Position, während die anderen im Kurs seelenruhig dastanden. Eines Tages nach dem Kurs verriet Genevieve Somer den Schlüssel zu der Übung: Sie sollte ihren Verstand beruhigen und sich auf den Augenblick konzentrieren. Und tatsächlich, diese eine kleine Fokusverlagerung, dieser minimale Perspektivwechsel machten den entscheidenden Unterschied. Statt sich die ganze Zeit anzustrengen, um die Balance zu halten, suchte sie sich einen Punkt, auf den sie den Blick richtete, und mit einem Mal war ihre ganze Energie im Lot und die Position ein Kinderspiel. Heute hält Somer vrikshasana genau wie die anderen absolut reglos bei, bisGenevieve mit einer Handbewegung zur nächsten Position auffordert.
Somer kommt zwei- oder dreimal die Woche in dieses Yoga-Studio, das den ehrgeizigen Namen ›Revolution‹ trägt. Als ihr nach den ersten paar Sitzungen morgens alles wehtat, wurde ihr klar, wie lange es her war, dass sie Sport
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