Geheime Tochter
kramt herum. Sie ertastet etwas, aus dessen Form sie nicht schlau wird, und zieht es heraus. Eine Tüte mit Süßigkeiten. Ghirardelli-Minzschokoladenquadrate. Ihre Lieblingssorte. Mom . Sie muss ihr die Tüte am Flughafen heimlich in den Rucksack gesteckt haben, genau wie sie ihr früher immer ein einzelnes Schokoquadrat mit in den Lunchbeutel gab. Asha stößt einen Schrei aus, und der Fahrer dreht sich um. Sie winkt ab und durchwühlt weiter ihren Rucksack. Nicht auszudenken, wie der Mann reagiert, wenn sie nicht bezahlen kann. Unter ihrem Notizbuch stößt sie auf einen zerknitterten Briefumschlag: Es ist der, den ihr Vater ihr am Flughafen gegeben hat. Ein kleines Lachen bricht sich durch ihre Tränen Bahn. Die nette Idee ihres Vaters hilft ihr jetzt, nach Hause zu kommen. Sie öffnet den Umschlag und zählt die Rupien. Sie tippt dem Fahrer auf die Schulter und zeigt ihm das Geld. »Wie weit komme ich damit?«
Er spuckt auf die Straße, bevor er antwortet. »Worli.«
Als der Fahrer schließlich anhält und sie aus der Rikscha steigt, sieht sie sich inmitten eines Stroms von Menschen, die alle eine lange Treppe hinaufsteigen. Sie schaut hoch und sieht am Ende der Treppe ein mächtiges, reich verziertes Gebäude. »Entschuldigung«, spricht sie jemanden in der Menge an. »Was ist das da oben?«
»Mahalaxmi-Tempel.«
Sie blinzelt und schaut wieder hoch zu dem Gebäude. Sie hört Dadimas Stimme im Kopf. Er verleiht meinem Tag ein kleines bisschen Frieden . Asha steigt langsam die Stufen hoch. Die Treppe, die hinauf zum Tempel führt, wird gesäumt von winzigen Läden, die leuchtende Blumen, Dosen mit Süßigkeiten, kleine Hindugötter-Figürchen undandere Souvenirs verkaufen. Während ihres langen Aufstiegs besprenkeln erste Regentropfen den Boden, kommen schneller und fester, drängen sie, ihre Schritte zu beschleunigen. Als sie fast oben ist, hat sie einen atemberaubenden Blick auf das Arabische Meer, das sich unter ihr ausbreitet. Sie zieht vor dem Tempel ihre Sandalen aus und stellt sie zu den Hunderten anderen, die bereits dort stehen. Drinnen fühlt sich der Boden kühl unter ihren nackten Füßen an. Nach dem lärmenden Trubel draußen kommt es ihr hier zunächst still vor, doch als sich ihre Ohren umgestellt haben, hört sie leise raunenden Sprechgesang und die Wellen, die gegen die Felsen donnern.
Im Tempel stehen drei goldene Statuen von Hindugöttinnen jeweils in einer eigenen Nische; sie sind mit Schmuck und Blumen behängt, und davor liegen Opfergaben wie Kokosnüsse und Obst. Gelbe, weiße und orangefarbene Blumengirlanden hängen von der Deckenmitte und sind um die Säulen gewunden. Asha sinkt in der Mitte des offenen Raumes auf die Knie und beobachtet andere, um sich an ihnen zu orientieren. Vor der mittleren Göttin hält ein Priester mit geschorenem Kopf und einem weißen Lendenschurz eine Zeremonie mit einem Paar ab, das Blumengirlanden trägt. Etliche schon ältere beleibte Frauen in Saris singen zusammen in einer Ecke. Ein junger Mann, ungefähr in ihrem Alter, kniet mit geschlossenen Augen neben ihr und wiegt sich im Gebet vor und zurück.
Ungefähr in ihrem Alter. Sie hat einen Bruder. Vijay. Ein Bruder, von dem sie nichts wusste und der bestimmt nichts von ihr weiß. Er könnte überall und nirgends in dieser Stadt sein. Er könnte hier sein.
Der Geruch von Weihrauch dringt ihr in die Nase. Sie schließt die Augen und holt tief Luft. All die Jahre, die siesich nach ihren Eltern gesehnt hat, von dem Augenblick geträumt hat, an dem sie sie kennenlernen und sich endlich ganz fühlen würde. Sie hat immer gedacht, sie würden sich auch nach ihr sehnen. Das Gesicht brennt ihr vor Scham darüber, wie dumm sie gewesen ist. Wieder fließen die Tränen. Ihre Eltern haben sich nicht nach ihr gesehnt. Sie vermissen sie nicht. Sie haben sie einfach entsorgt.
Und in diesem Moment sind die Träume, die sie in ihrem Herzen und in ihrer weißen Marmordose verwahrt hat, verschwunden. Sie lösen sich in Luft auf, wie der Weihrauch, der vor ihr aufsteigt. Ihre Fragen sind beantwortet, das Geheimnis um ihre Herkunft gelöst. Es gibt für sie nichts mehr herauszufinden. Sie muss ihre Eltern nicht kennenlernen, nur um wieder verschmäht und abgewiesen zu werden.
Rings um sie herum wird das Singen und Murmeln lauter, übertönt schließlich die wütenden Stimmen in ihrem Kopf. Der Silberreif lässt sich mühelos vom Handgelenk streifen. Asha dreht ihn wieder und wieder zwischen den Fingern. Sie drückt
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