Geheime Tochter
ins Gesicht. »Ihre Augen, sie sind so ungewöhnlich. Ich habe diese Farbe nur ein einziges Mal bei einer indischen Frau gesehen.« Ein Ausdruck des Begreifens breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Wann, sagten Sie, wurden Sie adoptiert?«
»Neunzehnhundertfünfundachtzig. Im August. Wirklich? Was –«
»Und wissen Sie, wie alt Sie waren?« Er stößt auf dem Weg zu dem Stahlaktenschrank hinter ihrem Stuhl einen Stapel Papiere um.
»Etwa ein Jahr, glaube ich.« Sie steht auf und geht zu ihm, späht ihm über die Schulter.
Er sucht die Akten in dem Schrank durch, die noch ungeordneter aussehen als die auf seinem Schreibtisch. »Ich erinnere mich an sie … Sie war aus Palghar oder Dahanu, eins von diesen Dörfern im Norden. Ich glaube, sie ist den ganzen Weg hierher zu Fuß gegangen. Ich erinnere mich an die Augen.« Er schüttelt den Kopf, hält dann inne und sieht sie an. »Wissen Sie, das kann eine Weile dauern. Ich muss alle Akten von neunzehnhundertvierundachtzig durchsehen – die hier und dann noch welche hinten. Soll ich Sie anrufen, falls ich etwas finde?«
Sie hat ein fiebriges Gefühl bei dem Gedanken, dass die Informationen hier sind, irgendwo in diesem chaotischenBüro. Sie kann jetzt nicht einfach gehen. »Kann ich Ihnen bei der Suche helfen?«
»Nein, nein.« Er lacht kurz auf. »Ich weiß nicht mal genau, wonach ich suche, aber wenn es hier ist, finde ich es. Das verspreche ich Ihnen. Für Sarla-ji. Versprochen. Hundertprozentig.« Er schüttelt den Kopf, was bei den Menschen hier verwirrenderweise eine Bejahung ist. So laufen die Dinge in Indien, das hat sie inzwischen gelernt. Man muss Vertrauen haben. Sie reißt ein Blatt aus ihrem Notizbuch, um ihre Nummer aufzuschreiben, und steckt sich den Bleistift hinters Ohr. »Haben Sie einen Kugelschreiber?«
Mehrere Tage später fährt sie wieder zum Shanti. Als sie durchs Tor geht, muss sie sich bremsen, um das letzte Stück zu Mr Deshpandes Büro nicht im Laufschritt zurückzulegen. Sie ist zappelig, während sie auf ihn wartet. Als er hereinkommt, springt sie auf. »Ich bin, so schnell ich konnte, hergekommen. Was haben Sie gefunden?«
Er setzt sich an seinen Schreibtisch und reicht ihr eine Aktenmappe. »Ich erinnere mich an sie. An Ihre Mutter. Ich habe diese Augen nie vergessen.« In der Akte liegt ein einzelnes Blatt Papier, ein unvollständig ausgefülltes Formular. »Tut mir leid, das sind nicht viele Informationen«, sagt er. »Damals hielten wir es für das Beste, alles möglichst anonym zu halten. Heute sind wir gründlicher und sammeln mehr Informationen, aus Gesundheitsgründen und so weiter. Aber ich habe herausgefunden, warum ich Sie zuerst nicht finden konnte. Wie Sie dort sehen …« Er beugt sich vor und zeigt auf eine Stelle auf dem Formular. »Ihr ursprünglicher Vorname war Usha, als Sie hergebracht wurden. So schlecht sind unsere Unterlagen wohl doch nicht.« Er lehnt sich lächelnd wieder auf seinem Schreibtischstuhl zurück.
Usha . Ihr Name war Usha . Ihr ursprünglicher Vorname. Den ihre Mutter ihr gegeben hatte. Usha Merchant .
»Ich war gerade erst zum neuen Direktor ernannt worden, als Sie zu uns kamen. Unsere Kapazität war ausgelastet, und ich hätte kein Kind mehr annehmen dürfen. Aber Ihre Mutter war mit ihrer Schwester hier, und die hat mich überredet, Sie zu nehmen. Sie meinte, Sie hätten schon eine Cousine hier, es wäre nicht richtig, Sie von ihr zu trennen.«
»Eine Cousine?« Asha hat ihr Leben ohne Cousinen verbracht und seit sie in Indien ist, taucht ständig eine neue auf.
»Ja, die Tochter Ihrer Tante. Sie sagte, das Mädchen wäre ein Jahr älter als Sie, aber das war vor meiner Zeit hier, da gab es definitiv noch keine Unterlagen.«
»Mr Deshpande, ich möchte sie finden … meine Mutter, meine Eltern. Wissen Sie, wie ich das anstellen soll?«, fragt Asha und versucht, den Kloß in ihrem Hals wieder hinunterzuschlucken.
Er schüttelt den Kopf. »Tut mir leid. Ich bin schon überrascht, dass ich diese Akte da gefunden habe.«
Mr Deshpande hilft ihr, eine Autorikscha anzuhalten, und erteilt dem Fahrer die Anweisung, sie zum Bahnhof zu bringen. Sie hält die Aktenmappe fest in einer Hand und schüttelt mit der anderen Mr Deshpandes. »Vielen, vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«
»Viel Glück, mein Kind. Bitte seien Sie vorsichtig.«
Zurück an ihrem Schreibtisch in der Times – Redaktion starrt sie auf die einzelne Seite in der Aktenmappe, obwohl sie die wenigen Informationen auf dem
Weitere Kostenlose Bücher