Geheime Tochter
getrieben hatte, dass sie gejoggt war, bis ihr die Lunge brannte, oder geschwommen, bis die Muskeln angenehm müde waren, wie sie das während ihrer beiden kurzen Schwangerschaften getan hatte. Vor gut zwanzig Jahren, als ihr Körper nicht mehr richtig funktionierte, hatte Somer aufgehört, ihn wichtig zu nehmen. Wenn der Rücken ihr Ärger machte oder ihre Allergien sich meldeten, nahm sie es ihrem alternden Körper übel, dass er wieder und wieder versagte. Jede neue Yoga-Position, die sie probierte, war eine Herausforderung, nicht nur beim Strecken und Drehen, sondern auch, weil sie ihren Körper neu kennenlernen musste, um zu wissen, welche Muskeln verkrampft waren, welche Gelenke steif. Sie musste behutsam mit sich umgehen – zuerst die Grenzen ihres Körpers verstehen und dann herausfinden, wie sie über sie hinausgehen konnte. Dabei hat Somer gelernt, den Körper wieder für sich zu reklamieren, von dem sie sich viele Jahre zuvor verraten gefühlt hatte.
Die Wende kam eines Tages, als Genevieve die Teilnehmerinnen ermahnte, auf ihren Atem zu achten. »Haltet ihr den Atem an?«, fragte sie. »Achtet darauf, ob ihr die Luft nach dem Einatmen anhaltet, und falls dem so ist, fragt euch, was ihr vor Angst nicht loslassen wollt? Oder, falls ihr die Luft nach dem Ausatmen anhaltet, was ihr vor Angst nicht zulassen wollt?« Somer merkte, dass sie beides tat, und das hieß, dass sie von Angst beherrscht wurde, genau wie Krishnan ihr das so häufig vorgeworfen hatte.
Nach drei Monaten allein hat sie Möglichkeiten gefunden, die Einsamkeit zu bekämpfen. Donnerstags geht sie zum Italienischkurs bei Giorgio, der zwar sexy klingt, es aber nicht ist, ein grauhaariger alter Sizilianer, dem die weißen Brusthaare oben aus dem Hemd lugen. Sie hat angefangen, die Sprache für ihre Toskana-Reise zu lernen. Die Woche über, wenn sie in der Klinik eingespannt ist und Studenten die Straßen im Zentrum von Palo Alto bevölkern, findet sie den Rhythmus ihres neuen Lebens erträglich.
Die Wochenenden sind da schwieriger. Die freien Stunden ziehen sich dahin, und manchmal spricht sie lange Zeit mit keiner Menschenseele. Normalerweise trifft sie sich mit Liza, die ihren Lebensstil als ältere Single-Frau vervollkommnet hat. Sie verabreden sich zum Abendessen oder gehen zusammen wandern. Dennoch, an den Wochenenden fehlt ihr Kris am meisten. Sie sehnt sich nach den gemütlichen Vormittagen, die sie Zeitung lesend zusammen im Bett verbrachten. Wenn es Abend wird, wünscht sie sich, mit ihm Arm in Arm zu ihrem Lieblings-Thai um die Ecke zu gehen und sich eine Schüssel mit köstlichem Kokosnuss-Curry zu gönnen. Sie vermisst seinen schweren Arm über ihrem Körper, wenn sie allein im Bett liegt. Wenn sie Studenten in der Stadt sieht, versucht sie sich an das sorglose Gefühl zu erinnern, das sie damals mit Kris zusammen hatte. Sie hängt Erinnerungen an die ersten Jahre mit Asha nach, als ihre Tochter noch eine kleine Knospe war, die sich vor ihnen auftat und sie mit allem, was sie sagte oder tat, zum Lachen brachte: Wenn sie in den Zoo gingen und die ganze Zeit vor dem Affenkäfig verbringen mussten und Asha erst bereit war, mit nach Hause zu gehen, wenn ihre Eltern Affenlaute und – gesten nachmachten. Der Urlaub in SanDiego, als Asha sechs war und sie Krishnan, der am Strand eingeschlafen war, bis zum Hals im Sand einbuddelte.
Durch die Zeit allein hat Somer schätzen gelernt, wie sehr ihr Leben um Kris und Asha kreiste. Sie hat ihnen im Laufe der Jahre viel geopfert und ihre Karriere der Familie zuliebe hintangestellt, aber ohne sie wäre ihr Leben bedeutungslos und unerfüllt gewesen. Selbst jetzt freut sie sich jede Woche am meisten auf den Sonntagmorgen, wenn sie zum Haus hinüberfährt, um gemeinsam mit Kris zur verabredeten Zeit Asha anzurufen. Er und Asha bestreiten zwar immer den größten Teil des Telefonats, aber das macht Somer nicht mehr so viel aus wie früher. Oft kommen ihr schon die Tränen, wenn sie Ashas Stimme von so weit weg hört. Sie weiß, dass sie und Kris ihr das glückliche Ehepaar vorspielen. Aber für die dreißig Minuten am Telefon und anschließend eine Tasse Kaffee in der Küche mit Kris kommt es ihr eigentlich ziemlich echt vor.
Auf einmal, und viel zu früh, so findet sie, ist schon Zeit für Shavasana , die Entspannungsposition, die alle in den letzten fünf Minuten der Sitzung einnehmen. Am Anfang war das der Teil, vor dem Somer immer am meisten graute – einfach dazuliegen, mit all den
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