Geheime Tochter
riecht. Sie hält sich die Hand vor Nase und Mund. Kakerlaken krabbeln emsig in den Ecken, und auf dem Treppenabsatz steigt sie behutsam um einen Mann herum, der auf seiner ausgerollten Matte schläft. Sie wendet die Augen ab, wird aber das flaue Gefühl im Magen nicht los. Ihre Gedanken schwanken zwischen den gleichermaßen unangenehmen Möglichkeiten, dass ihre Eltern tatsächlich indiesem Haus wohnen und, falls nicht, dass sie nicht weiß, wie sie sie sonst finden soll.
Auf der ersten Etage stehen die meisten Wohnungstüren offen. Kleine Kinder laufen über den Flur und jagen einander von einer Wohnung in die nächste. Durch eine der Türöffnungen sieht Asha eine junge Frau in der Hocke den Boden fegen. »Entschuldigung, wissen Sie, wo ich die Merchants finde? Kavita Merchant?«, fragt Asha. Die Frau schüttelt den Kopf, hebt ein krabbelndes Baby vom Boden auf und winkt Asha, ihr zu folgen. Sie gehen über den Flur und, ohne anzuklopfen, direkt in eine Wohnung, wo eine andere junge Frau auf dem Balkon einen Teppich ausschlägt. Die Wohnung ist bedrückend klein – anscheinend nur ein einziger Raum – und notdürftig möbliert. An den Wänden blättert die Farbe ab, und von der Decke baumelt eine einsame nackte Glühbirne. Aus der winzigen Küchenecke weht der Geruch von köchelnden Zwiebeln und Gewürzen. Die beiden Frauen sprechen miteinander, während sie Asha neugierig beobachten. Sie sind nicht viel älter als sie. Bis auf den Sprachunterschied klingt ihr verschwörerisches Getuschel ganz wie Ashas Gespräche mit ihren Freundinnen zu Hause. Doch diese Frauen leben mit Mann und Kindern zusammen, nicht in einem Studentenwohnheim, sie sind mit dem Haushalt beschäftigt, nicht mit Büchern. Asha bekommt schon Platzangst bei dem Gedanken, auf so engem Raum leben zu müssen.
»Kavita ben? Du suchen Kavita ben? «, fragt die zweite Frau in holprigem Englisch.
»Ja, Kavita Merchant«, sagt Asha.
»Kavita ben hier nicht mehr wohnen. Jetzt Vincent Road. Du kennen Vincent Road?«
Asha rennt die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Jemand weiß, wo meine Mutter ist . Endlich weiß sie, dass sieauf der richtigen Spur ist. Der erste Taxifahrer, den sie anspricht, hat keine Ahnung, wo die Vincent Road ist. Der zweite weiß es zwar, ist aber nicht gerade begeistert, um diese Tageszeit da hinzufahren. Asha holt ein paar Scheine aus ihrer Tasche, doch die Summe scheint ihn nicht zu überzeugen. Verdammt . Sie ist so nah dran. Und sie wird irgendwie zur Vincent Road kommen, und wenn sie das Taxi des Mannes kapern und selbst dorthin fahren muss. Sie leert ihren Geldgürtel und wedelt mit dem ganzen Inhalt vor seiner Nase. Endlich nickt er knapp und öffnet die hintere Tür von innen. Ihre Gedanken überschlagen sich auf der halbstündigen Fahrt im Fond ihres nun schon vierten Taxis an diesem Tag. Alles, was ihr die letzten vierundzwanzig Stunden offenbart haben, kreist ihr unaufhörlich durch den Kopf. Ihr Name war Usha. Sie hat die Augen ihrer Mutter. Sie hat eine Cousine. Sie hat Eltern, die auf der Vincent Road wohnen, hier in Mumbai. Ihr Herz pocht so heftig, als könne es ihr jeden Moment aus der Brust springen.
Die Vincent Road entpuppt sich als kurze Straße mit nur drei ziemlich hohen Mietshäusern. Sie gibt dem Fahrer das Geld, das sie ihm versprochen hat, und denkt nur kurz darüber nach, dass sie jetzt kein Geld mehr hat, um nach Hause zu kommen. Auf den Namensschildern an der Tür des ersten Gebäudes sind keine Merchants aufgeführt. Sie betritt das zweite Gebäude und sieht einen uniformierten Mann an einem Tisch in der Lobby sitzen. »Können Sie mir sagen, ob hier eine Kavita Merchant wohnt?«
Der Uniformierte schüttelt den Kopf. »Regulärer Portier in Pause. Kommen Sie später wieder.«
Asha sieht eine Mappe vor ihm auf dem Tisch. »Können Sie nachsehen, bitte? Kavita Merchant?«
Der Uniformierte, der den Eindruck macht, als hätte er lieber auch Pause, klappt die Mappe auf und fährt mit dem Finger an einer Namensliste entlang. »Merchant … Hahnji . Vijay Merchant. Sechs-null-zwei.«
Vijay? »Nicht Kavita? Kavita Merchant? Oder Jasu Merchant?«, fragt sie und schaut sich um, ob der reguläre Portier vielleicht schon in Sicht ist.
» Nai , einziger Merchant hier heißt Vijay. Vijay Merchant.«
Ihr ist, als würde ihr das rasende Herz bis hinunter in die Füße sacken. Wie kann das sein? Aber es gibt ja noch ein Mietshaus auf der Vincent Road. Sie wendet sich zum Gehen.
»Ah, da ist er«,
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