Geheime Tochter
bisschen Lebenswillen, das ihm geblieben war, auch noch verlieren. Ich mache mir Sorgen, wie er die Einäscherung morgen verkraftet. Es ist gut, dass du da bist. Du gibst uns allen Kraft.« Rupa schlingt die Arme um Kavita und drückt ihr mit einer feuchten Hand die Schulter.
Kavita bewundert die Fähigkeit ihrer Schwester, sich so erwachsen zu verhalten, für die Bedürfnisse aller anderen zu sorgen, sich ums Haus zu kümmern, die Vorbereitungen für die Zeremonie zu treffen. Kavita empfindet nichts als Verzweiflung über den Verlust ihrer Eltern: den Tod ihrer Mutter, die geistige Verwirrung ihres Vaters. Sie hat das Gefühl, als würde das ganze Gefüge ihrer Familie zusammenbrechen. Sie blickt sich um und stellt fast überrascht fest, dass die Wände des Hauses noch stehen. Sie weiß nicht recht, wer sie in der Welt ist, ohne den Rückhalt ihrer Eltern. Obwohl es fünfzehn Jahre her ist, dass sie Dahanu verlassen hat, fühlt sie sich nach wie vor im Haus ihrer Eltern wie ein kleines Mädchen. Sie rügt sich im Stillen dafür, dass sie sich wie ein Kind aufführt, dass sie im Vergleich zu ihrer starken Schwester so selbstsüchtig ist.
»Wann kommen Jasu und Vijay?«, fragt Rupa.
»Mit dem Zug morgen früh.« Kavita nimmt das nächste thali von Rupa entgegen. Sie sagt nicht, dass Jasu wahrscheinlich allein kommen wird.
51
Mutter Indien
Mumbai, Indien – 2005
Asha
Asha sitzt an ihrem Schreibtisch in der Times – Redaktion und geht ihre Notizen durch. Inmitten des Papierwusts liegen zwei Zettel mit Nachrichten von Sanjay. Sie hat oft an ihn gedacht, seit sie vor zwei Wochen das erste Mal im Waisenhaus Shanti war, aber sie kann sich nicht überwinden, ihn anzurufen. Die Entdeckung, die sie in der Eingangshalle des Hauses auf der Vincent Road gemacht hat, beschämt und verwirrt sie noch immer. Sie kann sich ihre Gefühle selbst nicht erklären und erst recht niemand anderem. Sie fürchtet, wenn sie sich mit Sanjay trifft, wird sie das alles erneut durchleben.
Heute ist sie dabei, Abschriften der Interviewaufnahmen zu machen, aber sie muss immer wieder daran denken, was Meena an dem Tag in Dharavi gesagt hat – Mutter Indien liebt ihre Kinder nicht gleich stark . Sie geht zu dem Terminal hinüber, an dem sie Zugriff auf die Datenbank der Times hat. In das schwarze Suchkästchen tippt sie »Indien, Geburtsraten« und erhält über eintausend ungeordnete Ergebnisse. Sie ergänzt die Suchbegriffe um »Mädchen und Jungen« und erhält ein Dutzend Artikel. Sie klickt den ersten Artikel an, der 1991 von den Vereinten Nationen veröffentlicht wurde, und liest, dass die Geburtenraten für Mädchen in Indien kontinuierlich zurückgegangen sind. Das entsprechende Liniendiagramm zeigtsowohl den steilen Rückgang für Mädchen als auch die wachsende Lücke zwischen Mädchen und Jungen. Der nächste Artikel prangert die Verbreitung von leicht transportablen Ultraschallgeräten im ganzen Land an. Das Aufkommen der kleineren, kostengünstigen Geräte hat es offenbar skrupellosen Leuten erleichtert, in den ländlichen Regionen Indiens herumzureisen und viel Geld damit zu verdienen, dass sie bei werdenden Müttern das Geschlecht des ungeborenen Kindes feststellen. Die indische Regierung hat Ultraschalluntersuchungen zum Zwecke der Geschlechtsfeststellung zwar schon vor einem Jahrzehnt verboten, doch die Praxis ist nach wie vor weit verbreitet und hat häufig eine geschlechtsselektive Abtreibung zur Folge, ein Ausdruck, den Asha nie zuvor gehört hat.
Im dritten Artikel, der zu einer Serie über den Kampf für die Rechte der Frauen in Indien gehört, geht es um die Tötung von neugeborenen Mädchen sowie um Brautverbrennung und Mitgiftmorde. Asha überfliegt ihn nur kurz, ehe sie die Augen und dann den Artikel schließen muss. Ihr Magen rebelliert. Sie zwingt sich, noch einen weiteren Bericht zu lesen, und sucht nach irgendetwas Positivem. Sie findet einen Beitrag über eine kanadische Wohltäterin, die in ganz Indien zahlreiche Waisenhäuser gegründet hat. Asha blickt auf das Foto einer älteren weißen Frau im Sari, die von einer Schar lächelnder Kinder umringt wird. Unter dem Foto steht ein Zitat, demzufolge Auslandsadoptionen von Kindern aus ihren Waisenhäusern unerwünscht sind.
Asha hievt sich vom Stuhl hoch und kehrt zu ihrem Schreibtisch zurück, wo auf dem Computerbildschirm ein Bild von Yashoda eingefroren ist, dem kleinen Slum-Mädchen mit dem geschorenen Kopf. Die kleine Yashoda, so voller Energie und
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