Geheime Tochter
Hütte gefilmt hat, schaltet Asha die Kamera aus. Sie bittet Parag, der Frau für ihre Zeit zu danken. Er übersetzt und wendet sich wieder Asha zu.
»Sie will wissen, ob du chai möchtest?«
Asha lächelt diese Frau an, die nichts hat und ihr trotzdem Tee anbietet. Bei ihrem ersten Besuch in Dharavi hätte diese Geste bei ihr Unbehagen und ein schlechtes Gewissen ausgelöst. »Ja, danke. Tee wäre nett.« Sie setzen sich draußen vor die Hütte, und während die Frau Tee kocht, spielt Asha ein wenig mit den Kindern.
Die anderen Interviews, die sie führen, laufen ähnlich ab, sehr viel leichter als beim ersten Mal. Sie führen längere Gespräche mit den Frauen über ihr Leben, ihre Kinder und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Sie werden in die Hütten gebeten und zu noch mehr Tee eingeladen. Asha bittet Parag, die Namen von allen Müttern aufzuschreiben, mit denen sie sprechen. Als sich gegen Mittag bei ihnen der Hunger meldet, kann sie förmlich sehen, wie die Geschichte in ihrem Kopf Gestalt annimmt. »Wir sind ein ziemlich gutes Team«, sagt sie und hebt eine Hand, um mit Parag abzuklatschen. Er lässt sich zögerlich auf die Geste ein und lächelt.
»Hey, magst du pau-bhaji? «, fragt sie. »Ich kenne da einen tollen Imbiss ganz in der Nähe.«
Nach dem Essen muss Parag in einen anderen Stadtteil zu einem neuen Auftrag, daher bietet er an, Asha ein Taxi zu besorgen, ehe er sich auf den Weg zum Bahnhof macht.An der nächsten Straßenecke sieht sie einen Mann, der frische Schnittblumen und Girlanden verkauft.
»Schon gut«, sagt sie zu Parag. »Ich bleibe noch ein bisschen.«
Er sieht sie an, hebt eine Augenbraue und wirft dann einen warnenden Schulterblick in Richtung Slums. Sie ist noch nie ohne Begleitung in Dharavi gewesen.
»Geh ruhig, ich komme schon klar.« Sie gibt seiner Schulter einen sanften Stoß. Sobald er fort ist, geht Asha zu dem Blumenverkäufer und ersteht fünf Girlanden. Dann kauft sie am Eisstand nebenan ein Dutzend kulfis am Stil. Sie kehrt in die Siedlung zurück und macht sich auf die Suche nach der Frau, mit der sie am Morgen das erste Interview geführt haben. Als sie die Hütte findet, ist die Frau gerade dabei, die Wäsche aufzuhängen. Asha hält ihr zwei Girlanden hin und deutet auf die Hütte. Ein langsames Lächeln macht sich auf dem Gesicht der Frau breit, und sie duckt sich unter der Wäscheleine hindurch. Sie nimmt die Blumen entgegen, legt die Handflächen aneinander und senkt den Kopf. Asha lächelt und gibt ihr drei kulfis . Als sie sich umdreht und die nächste Hütte sucht, hört sie noch das fröhliche Lachen der Kinder hinter sich.
Sie verteilt die restlichen Girlanden und kulfis an die anderen Frauen und Kinder – wieder ohne Worte, ohne Dolmetscher, ohne Kamera. Als sie fertig ist, winkt sie ein Taxi heran und steigt ein. Jetzt, da sie endlich Gelegenheit hat, sich auszuruhen, spürt Asha einen starken Schmerz in den Knien, die Nachwehen der schlaflosen Nacht. Ihr Haar fühlt sich besonders fettig an, mehr als sie es inzwischen in Indien gewohnt ist. Sie freut sich schon darauf, es gründlich zu waschen, wenn sie zu Hause ist. Als sie klein war, hat ihre Mutter es morgens immer gebürstet,während Asha Zeichentrickfilme guckte. Es war einer der schönsten Momente des Tages für sie, wenn sie dann von Bugs Bunny aufblickte und sah, dass ihr widerspenstiges Haar für die Schule zu zwei adretten Rattenschwänzen gezähmt worden war.
In letzter Zeit sind Asha viele solcher Erinnerungen gekommen. Die aufwendigen Geburtstagspartys, die ihre Mutter jedes Jahr für sie veranstaltete, für die sie den ganzen Vormittag in der Küche stand, um Kuchen zu backen. Die jährliche Ostereiersuche, zu der sie alle Kinder aus der Nachbarschaft in ihren Garten einlud und für Asha stets einen Extravorrat Eier in immer derselben Ecke des Sandkastens versteckte. Und diese Kamera, vor allem die Kamera. Ihre Eltern waren anfangs beide nicht begeistert von ihrem Interesse am Journalismus, aber ihre Mom akzeptierte den Gedanken schließlich. Genauso, wie sie akzeptierte, dass Asha sich für eine Uni so weit von zu Hause entschied und Anglistik studieren wollte statt Medizin. Obwohl sie viele Entscheidungen getroffen hat, die ihre Mutter ärgerten, manche sogar ganz bewusst in der Absicht, sie zu ärgern, hat Asha niemals an der Unerschütterlichkeit der Liebe ihrer Mutter gezweifelt. Sie hat Gewissensbisse, weil sie vor ihrer Abreise so wütend auf ihre Mom war und sie seitdem immer
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