Geheime Tochter
Elend hineingeboren werden. Asha kopiert ein Standfoto von der lächelnden Mutter des verkrüppelten Mädchens auf einen neuen Bildschirm. Über das Bild tippt sie einen Titel: »Das Gesicht der Hoffnung: Überleben in städtischen Slums.«
Sie beginnt zu tippen, erzählt die Geschichten vom Mut dieser Frauen. Ihre Finger fliegen über die Tastatur, versuchen, mit den Gedanken mitzukommen, die ihr durch den Kopf jagen. Sie wirft einen kurzen Blick auf die Uhrzeit, die der Monitor anzeigt, und sieht, dass es kurz vor sieben ist. Sie wird bald zu Hause erwartet. Das vertraute Adrenalinhoch erfasst ihren Körper, genau wie so oft spät abends in der Redaktion des Herald , und sie weiß, dass sie weiterschreiben muss, wenn nötig die ganze Nacht durch. Noch immer tippend, greift Asha zum Telefonhörer und klemmt ihn sich zwischen Wange und Schulter. Devesh meldet sich.
»Hi. Asha hier. Sag bitte Memsahib, dass ich heute Nacht nicht nach Hause komme. Ich bleibe im Büro und komme morgen früh nach Hause.« Sie spricht langsam, legt nach jedem Wort eine Pause ein, damit er sie versteht. Sie arbeitet unermüdlich die ganze Nacht hindurch, bis ihre Story Gestalt annimmt. Erst dann legt sie den Kopf auf den Schreibtisch, um sich auszuruhen.
Als Meena am Morgen kommt, wartet Asha schon bei ihr im Büro. » Arre , wen haben wir denn da! Du siehst ja grässlich aus. Warst du etwa die ganze Nacht hier?«
»Ja, war ich, aber das spielt keine Rolle. Hör mal, ich möchte noch einmal nach Dharavi. Ich muss noch ein paar Interviews mehr machen.«
»Was, willst du diesmal mit Männern reden?« Meena nimmt die Sonnenbrille ab und lässt sie in ihre Handtasche auf dem Schreibtisch fallen.
»Nein, Frauen. Mütter, genauer gesagt.«
Meena hebt eine Augenbraue. »Klingt interessant.« Sie setzt sich. »Ich höre.«
»Also, ursprünglich wollte ich meinen Schwerpunkt ja auf die Kinder legen. Ich hab mir die Interviews wieder und wieder angesehen, und dabei ist mir klar geworden, dass sie deshalb so deprimierend wirken, weil die Kinder in die Umstände hineingeboren werden, sie sich nicht aussuchen können und keinen Einfluss darauf haben. Das ist traurig, gibt aber als Story nicht viel her. Aber wenn du die Perspektive wechselst und die Geschichte der Kinder durch ihre Mütter erzählst, verändert das alles. Dann siehst du Mut. Widerstandskraft. Die Stärke des menschlichen Geistes.«
»Das gefällt mir«, gibt Meena zu und dreht sich mit ihrem Bürosessel herum. »Das ist ein prima Ansatz. Aberehrlich, Asha, ich ersticke in Arbeit. Ich kann nicht mitkommen.«
»Was ist mit Parag?«
Meena zuckt die Achseln. »Frag ihn doch selbst.«
Auf der Fahrt nach Dharavi erläutert Asha Parag, was für Interviewpartnerinnen sie sich vorstellt. Sie ist nicht sicher, ob er sich aus kollegialer Verpflichtung oder aus männlicher Galanterie heraus bereit erklärt hat, sie zu begleiten. »Mensch, ich bin froh, dass du mitkommst«, sagt sie zu ihm, als sie aus dem Taxi steigen. Er nickt auf die zurückhaltende indische Art mit dem Kopf. »Nein, ehrlich, ich kenne mich ja noch nicht so gut hier aus, wie du sicher bemerkt hast. Ich kann deine Hilfe wirklich gut gebrauchen.« Sie nimmt ein schwaches Lächeln wahr und beschließt, das Thema fallen zu lassen.
Dharavi ist voller Frauen, Mütter, die sich um ihre Kinder kümmern. An Bereitwilligen mangelt es nicht, aber Asha geht die schmale Straße entlang, bis sie die erste Frau findet, die sie interviewen möchte. Sie sitzt ruhig vor ihrer Hütte und scheuert Wäsche in einem Eimer, während drei Kinder um sie herumtollen. Asha begrüßt die Frau mit namaste und wartet, bis Parag um die Erlaubnis gebeten hat, dass sie die Kamera einschalten kann. Sie flüstert Parag ein paar Fragen zu und überlässt ihm dann größtenteils das Gespräch, während sie zurücktritt und filmt. Nachdem die Frau einige Fragen beantwortet hat, lädt sie Asha in die Hütte ein. Sowohl Asha als auch Parag müssen an der niedrigen Tür den Kopf einziehen. Drinnen sieht Asha auf dem Boden zwei dünne Schlafmatten und an der Wand dahinter gerahmte Fotos von einer Frau und einem Mann, die beide älter aussehen. Sie hat gelernt, dass mit solchen Fotos verstorbene Familienmitglieder oder Gurus geehrt werden, für gewöhnlich mit frischen Blumen, aber diese zwei sind mit welken, von Fliegen umschwirrten Girlanden geschmückt. In der Ecke steht ein kleiner Schrein mit Statuen und Räucherstäbchen. Nachdem sie das Innere der
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