Geheime Tochter
zu, und das weiche Metall verbiegt sich. Der Reif ist verformt, matt vom Alter, unvollkommen. Das ist offenbar alles, was ihr von ihrer Mutter bleiben wird. Sie hält ihn zwischen den Handflächen und schließt die Augen. Dann legt sie die Stirn auf den Boden und weint.
50
Eine starke Liebe
Mumbai, Indien – 2005
Kavita
Erst das heftige Kribbeln im linken Fuß zwingt Kavita, endlich ihre Position zu verändern. Sie ist tief in Gedanken versunken, wiederholt mantras , die sie aus der Kindheit kennt, beschwört Erinnerungen an ihre Mutter herauf. Hier, im Allerheiligsten des Tempels, ohne Fenster zur Außenwelt, scheint die Zeit stillzustehen, während das rhythmische Rufen des pandit sie auf seinen Wellen in die Vergangenheit trägt. Der pandit hält für ein Paar, wahrscheinlich frisch verheiratet, eine Laxmi- puja ab. Kavita selbst betet meist auch am liebsten zu Laxmi, der Göttin des Wohlstands, aber heute sitzt sie vor der Göttin Kali, die, ebenso wie Durga, den heiligen Geist der Mutterschaft verkörpert. Sie fühlt sich hier geborgen, mit dem vertrauten Räucherstäbchenduft in der Nase und dem leisen Glöckchenklimpern in den Ohren, losgelöst von der Welt da draußen mit ihren Problemen.
Weitere Tempelbesucher kommen und gehen: Junge und Alte, Frauen und Männer, Einheimische und Touristen. Einige schreiten langsam ringsherum an den Wänden entlang wie in einem Museum. Andere kommen, um auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch oder einem Krankenhausbesuch rasch eine Opfergabe darzubringen, eine Kokosnuss oder ein paar Bananen. Diese Gruppe beleibter wohlhabender Frauen in der Ecke kommt jedenMorgen her, um zu singen und ihre Frömmigkeit lauthals unter Beweis zu stellen. Wieder andere, wie Kavita, hocken einfach nur da, manchmal stundenlang. Das sind, wie ihr inzwischen klar ist, diejenigen, die trauern. Genau wie sie trauern sie um einen Verlust, der so groß und tief und allumfassend ist, dass er sie mit seinem Kummer wegzuspülen droht.
Sie kniet sich hin und beugt sich bis auf den Boden, um wie jedes Mal ihr letztes Gebet für ihre Kinder zu sprechen. Obwohl sie heute als Tochter trauert, hören ihre Pflichten als Mutter niemals auf. Sie betet für Vijays Sicherheit und Rettung. Sie betet für Usha, wo immer sie auch sein mag, sieht sie wie stets als kleines Mädchen mit Zöpfen vor ihrem geistigen Auge. In all den Jahren hat sie sich nie vorstellen können, wie ihre Tochter als erwachsene Frau aussehen würde, weshalb sie dieses Bild, ein kleines Kind, eingefroren in der Zeit, im Kopf bewahrt. Sie küsst die aneinandergelegten Zeigefingerspitzen und dann den einsamen Silberreif am Handgelenk. Sie will nicht gehen, aber sie muss zum Zug. Draußen regnet es jetzt. Von dem stetigen Guss wird sie nass bis auf die Haut, während sie die vertrauten Stufen des Mahalaxmi-Tempels hinuntergeht und dann weiter zum Hauptbahnhof von Mumbai.
Kavita bleibt auf dem Bahnsteig stehen, während die anderen Zugpassagiere um sie herum auseinanderlaufen. Es wartet hier niemand auf sie. Rupa will sie abholen, aber sie hat es offenbar nicht rechtzeitig geschafft, weil sie mit den Vorbereitungen zu tun hat. Kavita atmet tief den vertrauten Erdgeruch ein und setzt sich dann auf ihren Koffer, um zu warten. Die Felder, die sich am Horizont ausbreiten, sind grüner, als sie sie in Erinnerung hat. Oder hat die Monotonie von Mumbai ihre Sehkraft getrübt? Nochmehr hat sich verändert, seit sie vor fast drei Jahren zuletzt hier war. Die unbefestigten Straßen sind geteert worden, und vor dem Bahnhof steht eine Telefonzelle. Etliche Autos parken in der Nähe. Es sind diese modernen Modelle, die sie in Mumbai ständig sieht. Das alles zusammen ist ein bisschen beunruhigend. Kavita ist daran gewöhnt, sich ihr Heimatdorf als einen statischen Ort vorzustellen, der sich nicht verändert.
» Bena! « Kavita hört die vertraute Stimme, und als sie aufsteht, wird sie von Rupas Armen umschlungen. Auch ihre ältere Schwester hat sich mit den Jahren verändert, wie Kavita feststellt, denn ihr Haar ist inzwischen eher grau als schwarz.
»Ach, Kavi, Gott sei Dank bist du da.« Rupa drückt sie fest, und sie wiegen sich in der Umarmung hin und her. »Komm«, sagt sie, als sie sich von ihr löst. » Challo , es warten schon alle.«
Kavita fährt mit dem Finger über den Rand des Edelstahlbechers. Wie seltsam es ist, Tee serviert zu bekommen, als Gast behandelt zu werden, hier im Haus ihrer Kindheit. Viel hat sich nicht verändert, wie
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