Geheime Tochter
Zuversicht inmitten des Elends vonDharavi. Yashoda mit dem süßen Lächeln, die sich ihres Läusebefalls ebenso wenig bewusst ist wie der Tatsache, dass sie nie zur Schule gehen wird. Hätte mein Leben in Indien so ausgesehen? In den letzten Monaten hat sie Meena mit ihrer tollen Journalismuskarriere beneidet und Priya mit ihrem von Schönheitssalons und Shoppen bestimmtem Lebensstil. Doch jetzt ist für Asha offensichtlich, dass ihr Leben so nicht ausgesehen hätte. Sie wäre so aufgewachsen wie Yashoda oder ihre Schwester Bina – wäre bloß namenloser Teil einer Statistik in Indien gewesen, irgendein Mädchen, das niemand wertschätzt. Was für eine Zukunft werden diese Mädchen haben? Werden sie ihr ganzes Leben von der Kindheit bis zur Mutterschaft in Dharavi fristen, wie die mit Blutergüssen übersäte Frau, die sie interviewt hat? Oder werden sie zu den Glücklichen zählen, die aus den Slums rauskommen, nur um wie die beiden Frauen in dem Mietshaus auf der Shivaji Road zu enden, belastet mit Ehemännern, Kindern und Haushaltspflichten?
Ihr ganzes Leben lang hat Asha davon geträumt, was ihr dadurch entgangen ist, dass sie ihre leiblichen Eltern nicht kennt – bedingungslose Liebe, tiefes Verständnis, eine natürliche Verbindung. Ist mir wirklich das entgangen? Oder bloß ein chancenloses Leben? Arun Deshpandes Worte kommen ihr wieder in den Sinn. Die Glück haben, werden adoptiert. Sie denkt an ihre Kindheit in Kalifornien, an ihr Zimmer, das zweimal so groß ist wie die Hütten in Dharavi, an die Privatschule, die sie besuchte, ehe sie auf die Eliteuni ging. All die Jahre, die sie sich gefragt hat, wer wohl ihre Eltern sind. Vielleicht haben sie ihr einen Gefallen getan.
Usha . Ihre Mutter hat sie genug geliebt, um ihr einen Namen zu geben.
Sie starrt auf den Bildschirm, auf die dünne Kordel um Yashodas Hals, erinnert sich, wie fasziniert die Kleine von Ashas Ringen war. Meena hat ihr später erklärt, dass diese Mädchen damit aufwachsen, bei anderen Schmuck zu sehen, aber selbst nie welchen besitzen. Ihre Mutter hat sie genug geliebt, um ihr einen Silberreif zu schenken.
Sie war eine tapfere Frau. Sie muss ganz schön entschlossen gewesen sein, dich herzubringen. Ihre Mutter hatte sie genug geliebt, um sie den weiten Weg von irgendeinem Dorf ins Waisenhaus zu bringen. Sie hat sie genug geliebt, um sie wegzugeben.
Sie hat sie genug geliebt.
Sie hat sie geliebt.
Asha wischt sich die Tränen von den Wangen und zwingt sich, den Rest des Interviews mit Bina abzuspielen, auf der Suche nach einem Hoffnungsschimmer. Als sie sich jetzt auf dem Bildschirm sieht, begreift sie, wie unsensibel ihre Fragen nach dem kurzen Haar und der Schule waren. Parag hat bloß versucht, den Mädchen die Peinlichkeit zu ersparen, er wollte ihr Interview nicht behindern. Die Trostlosigkeit von Yashodas Leben wird noch übertrumpft von der Tragödie des verkrüppelten Mädchens, das als Nächstes auftaucht. Asha schaut wieder weg, als sie es sieht, genau wie am Tag des Interviews. Dann wendet sie sich langsam wieder dem Bildschirm zu und beugt sich vor, um die Aufnahme genau zu verfolgen. Sie erinnert sich nicht, das Gesicht des Mädchens zuvor gesehen zu haben. Das Mädchen lächelt, und seine Mutter auch. Die Frau sieht wirklich glücklich aus, als sie mit ihrer beinlosen Tochter auf dem Rücken den zwei Kilometer langen Fußweg zur Schule antritt. Wie kann das sein?
Die Frau im nächsten Interview, die mit den Blutergüssen und dem mattgrünen Sari, lächelt überhaupt nicht,außer ganz kurz, als Asha ihr die fünfzig Rupien gibt. Verdammt. Wieso habe ich ihr nicht mehr gegeben? Vielleicht hätte sie sich dann ein oder zwei Nächte nicht prostituieren müssen, um ihre drei Kinder und ihren trunksüchtigen Mann zu ernähren. Auf dem Bildschirm sehen ihre Augen hohl aus. Asha konsultiert ihre Notizen und erinnert sich, dass diese Frau in ihrem Alter ist. Sie kann sich nicht vorstellen, ihren Körper verkaufen zu müssen oder irgendetwas anderes von all den Dingen zu tun, zu denen diese Frauen um ihrer Familien willen bereit sind. Asha macht sich ein paar Notizen, spult dann zurück und schaut sich die Aufnahme erneut an, achtet diesmal aber genauer darauf, was die Frauen von ihrem Alltag erzählen. Der nächste Gedanke senkt sich auf sie herab wie ein Fallschirm, der den Boden bedeckt. Die wahre Geschichte über das Leben in Dharavi sind diese Mütter. Sie sind das Gesicht der Hoffnung für ihre Kinder, die in Armut und
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